Liberal, weltoffen, tolerant. So bezeichnet man gerne die Niederlande. Doch ist nicht immer alles Gold, was glänzt. Zum einen gibt es in den Niederlanden ein Problem namens Rechtspopulismus. Zum anderen ist die Parteienlandschaft derart zersplittert, dass es nach den letzten Wahlen im März 2017 knapp sieben Monate gedauert hat, bis eine Regierung zustande kam. Eine Analyse.
Nicht nur Belgien oder Italien tun sich manchmal schwer mit schnellen Regierungskoalitionen. Auch die Niederlande sind keine Unbekannten in diesem Verein. Ganze 209 Tage hat die Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen im März 2017 gedauert. Damit haben die Niederlande ihren eigenen Rekord aus dem Jahre 1977, der noch bei 208 Tagen lag, gebrochen. Nach knapp sieben Monaten sind am Ende vier Parteien in ein christlich-liberales Bündnis eingetreten, das allerdings nur über eine knappe Mehrheit im Parlament verfügt. Genauer gesagt, besteht die Mehrheit aus nur einer Stimme. Eine solide Regierung sieht anders aus.
Neben dem Viererbündnis, das sich aus der rechtsliberalen VVD von Premier Mark Rutte, der christdemokratischen CDA, der linksliberalen D66 und der kleinen ChristenUnie (CU) zusammensetzt, sitzen noch weitere neun eher kleinere Parteien im Parlament. Schmerzhafte Kompromisse der einzelnen Koalitionspartner waren von Anfang an vorprogrammiert.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Thema Sterbehilfe. Die linksliberale D66 hatte sich im Wahlkampf für eine erweiterte Sterbehilfe eingesetzt. Diese sollte nicht nur wie bislang für Kranke gelten, sondern für jeden Niederländer. Eine komplett gegensätzliche Einstellung dazu hat die konservative Christen-Union. Die CU lehnt Sterbehilfe grundsätzlich ab. Das Gleiche gilt auch für Abtreibungen. Weder D66 noch CU konnten sich durchsetzen. Die Sterbehilfe ist geblieben. Sie wurde weder erweitert noch abgeschafft. Auch in der Asylpolitik konnte sich die D66 gegenüber Ruttes VVD nicht durchsetzen. Die Aufenthaltserlaubnis anerkannter Flüchtlinge wurde von fünf auf drei Jahre heruntergeschraubt. Ein No-Go für die Linksliberalen.
Vor knapp einem Monat hat Premier Rutte nur knapp ein Misstrauensvotum im Parlament überstanden. Die Opposition hatte den Antrag gestellt, nachdem die Regierungskoalition in die umstrittene Abschaffung einer Dividendensteuer eingewilligt hatte. Die Opposition warf Rutte vor, Informationen über die Hintergründe dieser unpopulären Entscheidung bewusst verschleiert zu haben. Um die Situation zu retten, publizierte die Regierung daraufhin das knapp 60-seitige Dokument über den internen Entscheidungsprozess zur Abschaffung jener Steuer.
Misstrauensvotum gegen Premier Rutte
Aber Hauptsache kein Geert Wilders in der Regierung, werden nun manche denken. Wilders’ rechtspopulistische Ein-Mann-Partei PVV (Partij voor de Vrijheid) wurde immerhin zweitstärkste Kraft bei den vergangenen Wahlen. Von Anfang an hatten allerdings fast alle Parteien eine Koalition mit dem blondierten Rechtspopulisten ausgeschlossen. Und Wilders selbst hatte nie wirklich den Ehrgeiz, zu regieren.
Gegen Wilders läuft zurzeit ein Berufungsprozess. Er war im Dezember 2016 von einem Gericht in Schiphol wegen umstrittener Äußerungen über Marokkaner der Diskriminierung für schuldig befunden worden, nicht jedoch wegen Anstachelung zum Hass. Wilders’ Anwalt forderte das Gericht in Schiphol vergangene Woche dazu auf, die Verhandlung zu vertagen. Zur Begründung verwies er auf eine diskriminierende Äußerung eines anderen Abgeordneten über Russen. Anders als Wilders wird der Fraktionsvorsitzende der linksliberalen Koalitionspartei D66, Alexander Pechtold, nicht strafrechtlich verfolgt. Wilders bekomme keinen «fairen Prozess», sagte der Anwalt mit Blick auf den Umgang mit Pechtold. Pechtold hatte im Februar nach dem Rücktritt von Außenminister Halbe Zijlstra, der über ein Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin gelogen hatte, im Fernsehen gesagt: «Ich habe noch keinen Russen getroffen, der einen Fehler eingesteht.» Die Äußerungen von Pechtold und Wilders seien «rechtlich vergleichbar», sagte der Anwalt. «Wenn einer von ihnen strafrechtlich verfolgt wird, sollte auch der andere verfolgt werden.»
Wilders hatte bei einem Wahlkampfauftritt im Jahr 2014 vor jubelnden Anhängern in Den Haag gefragt: «Wollt ihr weniger oder mehr Marokkaner in eurer Stadt und in den Niederlanden?» Die Menge antwortete mit «Weniger»-Rufen, woraufhin Wilders ankündigte: «Wir werden uns darum kümmern.» Für den Berufungsprozess, den Wilders als «Hexenjagd» bezeichnet, hat das Gericht elf Prozesstage angesetzt. Das Urteil soll am 6. Juli verkündet werden.
Auf der politischen Bühne hat Wilders einen ernst zu nehmenden Konkurrenten bekommen: Der 35-jährige Thierry Baudet ist so etwas wie ein Geert Wilders für junge und gebildete Rechte in den Niederlanden. Jene Rechtsextreme, denen Wilders zu vulgär erscheint, ziehen den smarten Baudet mit seinem dandyhaften Erscheinungsbild und seiner eloquenten rechtsradikalen Rhetorik vor. Wilders hat keine Machtansprüche, Baudet dagegen sehr wohl. Dabei lässt er keine Gelegenheit aus, sich medienwirksam in den Mittelpunkt zu setzen. Nach dem Motto: Negative Berichterstattung ist besser als gar keine. Ende 2016 gründete Baudet das «Forum voor Democratie» (FvD), das letzten Umfragen zufolge auf Kosten von Wilders nahe an dessen Wahlergebnis von 2017 heranreicht. Diese zwei doch sehr unterschiedlichen Charaktere verbindet aber vor allem ein Name: Pim Fortuyn. Um das Phänomen Pim Fortuyn zu verstehen, muss man bis in die 1960er Jahre zurückblicken.
Damals waren die Niederlande so etwas wie das europäische Refugium für die Flower-Power-Bewegung. Mittendrin die Hippie-Hochburg Amsterdam. Wem sein eigenes Land zu spießig erschien, ging in die Niederlande. Dort galt Toleranz und Liberalität. Doch spätestens in den 1980er Jahren bekam die viel gelobte Weltoffenheit einen Knick. Es schien so, als hätten die Niederlande ein Immigranten-Problem. Viele Einwanderer aus dem einst niederländischen Indonesien, aus Marokko und dem Nahen Osten kamen in ihrer neuen Heimat auf den Geschmack des niederländischen Lifestyles. Sie fanden Gefallen an der liberalen Drogenpolitik und hingen gerne Joint rauchend mit den Niederländern in den Coffeeshops herum. Doch bei der Akzeptanz für die Gleichberechtigung der Frauen oder der Toleranz für homosexuelle Paare war es schnell vorbei mit der Liberalität. Immer öfter kam es zu Konflikten zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Letztere fühlten sich fremd, Erstere hatten Angst. Die Politik schien die Problematik nicht zu erkennen.
Anfang der Nullerjahre hat der Migrantenanteil in den Großstädten Amsterdam und Rotterdam fast die 50-Prozent-Marke erreicht. Sowohl die Toleranz der Einheimischen gegenüber den Zugewanderten als auch der Wille der Zugewanderten, sich zu integrieren, werden auf eine harte Probe gestellt. Zu dieser Zeit äußerte die Schriftstellerin Margriet de Moor die Befürchtung, die größten Metropolen des Landes seien auf dem Weg, sich zu Städten der Apartheid zu entwickeln.
Schwuler Dandy stürmt Politbühne
Ebenfalls zu dieser Zeit stürmte ein schwuler Dandy die niederländische Politbühne. Wilhelmus Simon Petrus Fortuyn, auch Pim genannt, war offen homosexuell, extrem eloquent und wusste genau, wie er die Massen bewegen konnte. Er nannte Muslime Alibaba und spielte mit der Angst der Niederländer, die er geschickt in Wut umzuwandeln wusste. In Wut gegen die «Fremden». Das Fundament für Geert Wilders und Thierry Baudet war gelegt. Am 6. Mai 2002, einige Tage vor den damaligen Parlamentswahlen, durchbohrten ein halbes Dutzend Kugeln Pims Körper. Ein linker Tierschützer und Umweltaktivist hatte auf einem Parkplatz in Hilversum, nahe Amsterdam, dem Spuk ein Ende bereitet. Pim sei «eine Gefahr für das Zusammenleben» in den Niederlanden gewesen, begründete er seine Tat.
Pim hatte im Mai 2000 an einer Veranstaltung zur «Kulturhauptstadt Europas» in Rotterdam teilgenommen. Dort hatte ihn ein Imam, der sich ausdrücklich nicht als europäischer Bürger, sondern als marokkanischer Muslim vorstellte, mit seinen Attacken scharf verletzt. Der Imam sagte unter anderem: «Die Schwulen müssen bekämpft werden; sie sind eine Gefahr für den Frieden.» Pim hatte sich fortan dem Kampf gegen den Islam verschrieben und gründete, nachdem er bei den Sozialdemokraten (PvdA) und den Rechtsliberalen (VVD) scheiterte, seine eigene Partei, die «Lijst Pim Fortuyn».
Nach dem tödlichen Attentat randalierten seine Anhänger, lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und zündeten Autos in der Hauptstadt Den Haag an. Die Niederlande standen unter Schock. Es war der erste politische Mord in dem Land. Zahlreiche Verschwörungstheorien zirkulierten und sollten die Politik nachhaltig beeinflussen. Der damalige Chef der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Ad Melkert sagte: «Die Niederlande haben ihre Unschuld verloren.»
Zwei Jahre später, am 2. November 2004, folgte eine weitere Terrortat. Es fielen Schüsse. Ein Mann stürzte in Amsterdam von seinem Rad. Es war der Filmregisseur Theo van Gogh. Sein islamkritischer Film Submission (dt. «Unterwerfung») hatte den radikalen Islamisten Mohammed Bouyeri zu der Tat bewegt. Er griff zum Dolch, schnitt Van Gogh die Kehle durch und rammte ihm mit einem Messer ein Pamphlet in die Brust. Das Land stand erneut unter Schock. Die Niederländer waren wütend. Es folgten Dutzende Anschläge auf muslimische Schulen und Moscheen. Der Attentäter wurde eingesperrt, doch die Wut der Niederländer blieb. Es ist eine Wut auf das Establishment und auf die Medien, die ihrer Meinung nach viele Probleme der multikulturellen Gesellschaft bagatellisiert haben. Die Gesellschaft ist stark polarisiert. Eine gute Voraussetzung also für die Popularität eines Geert Wilders oder Thierry Baudet. Doch auch die etablierten Parteien haben sich seitdem verändert und sich Teile von Fortuyns Politik zu eigen gemacht.
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