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Luxemburgs Austauschbare

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Der Wahlkampf kommt auf Touren, doch Luxemburgs Parteien wirken austauschbar. Der Philosoph Norbert Campagna sieht gleich an mehreren Stellen Nachholbedarf: blinde Abstimmungstreue in der «Chamber», programmatische Inhaltslosigkeit, hypokritische Scheindebatten und nationalistische Egoismen. Ein Interview.

Tageblatt: Sie forschen seit Jahrzehnten zur politischen Philosophie, insbesondere zum Liberalismus. Wie stehen Demokratie und Liberalismus zueinander?
Norbert Campagna: Demokratie und Liberalismus stehen in einem Spannungsfeld zueinander. Die Demokratie ist eine Entscheidungsform, in der die Mehrheit des Volkes entscheidet, was passieren soll oder nicht. Liberalismus heißt wiederum, dass man nicht Mehrheiten recht gibt oder nicht. Es gibt im Liberalismus vielmehr bindende Normen, an die sich die Mehrheit halten muss. Der Liberalismus setzt Grenzen der politischen Entscheidungsfähigkeit, während die Demokratie prinzipiell offen ist.

Das heißt?
Mit der Demokratie war Adolf Hitler möglich, mit dem Liberalismus wäre Hitler nicht möglich gewesen, weil er solchen Phänomenen Grenzen setzt. Liberalismus ist heute notwendig, um die Demokratie einzuschränken. Sie entwickelt sich immer stärker in Richtung Populismus.

Was verstehen Sie unter Populismus?
Es wird nach Affekten geurteilt. Beim Liberalismus spielt der Gedanke der Vernunft hingegen eine wichtige Rolle.

Bedeutet das, dass der Liberalismus populistische Phänomene per se ausschließen muss?
Ich bin ein absoluter Anhänger der Ausdrucksfreiheit, wenn man jemanden nicht direkt angreift oder zum Hass aufruft und so weiter. Solange man diskutiert, soll man seine Argumente für eine bestimmte These vorbringen.
Aber ein Kerngedanke des Liberalismus ist die Forderung nach der Aufklärung des Menschen. Dies, damit sie nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen treffen können.

Wie klärt man zeitgemäß auf?
Wir haben heute sehr viele Mittel, mit denen sich die Leute aufklären könnten. Aber prinzipiell ist ein Aufklärungsmangel beobachtbar.

Wie kann man gegen diesen Aufklärungsmangel vorgehen?
Die Schule und der Staat spielen hier eine wichtige Rolle. Man muss den Kindern zunächst die Grundlagen beibringen: richtig lesen, schreiben und rechnen. Die liberale Ministerin Anne Brasseur hat das «Back to basics» genannt. Das ist vernünftig.

Weshalb? Das klingt nach alten Rezepten.
Kritisch denken kann man erst, wenn man die Grundlagen zur Verfügung hat und die Sprache beherrscht. Deswegen ist die Schule wichtig, aber es gibt auch viele andere gesellschaftliche Akteure wie Verbände und soziale sowie klassische Medien, die aufklärerische Qualitäten haben können – wenn sie denn vernünftig genutzt werden.

Wo liegt das Problem?
All diese Mittel werden nicht zu Bildungs-, sondern zu Unterhaltungszwecken genutzt. Das ist das Problem.

Sie beschreiben in Ihrem jüngsten Buch, dass die Freiheit ein Pfeiler aufgeklärter Demokratien sei. Allerdings würden die Bedingungen dieser Freiheit in unserer Gesellschaft nicht mehr thematisiert. Wieso?
Für viele Leute ist Freiheit eine Selbstverständlichkeit geworden. Wenn die Züge alle pünktlich ankommen, fragt niemand: «Firwat kommen se mat Zäiten un?» Wenn aber ein Zug Verspätung hat, folgt direkt die Frage: «Firwat ass en ze spéit?» Heutzutage werden viele Dinge als Normalität wahrgenommen, die für vorherige Generationen keine Normalität waren.

Gerade die 1968er-Generation scheint dies zu spüren.
Ja, Freiheit war für die 1968er-Generation keine Selbstverständlichkeit. Sie musste sich bestimmte Freiheiten erkämpfen. Wir glauben aber heutzutage, weil wir die Freiheit haben, nicht mehr um sie kämpfen zu müssen. Doch gerade in diesem Moment muss man sich um Freiheit kümmern, damit man sie vernünftig gebraucht und sich bewusst ist, dass sie immer wieder verloren gehen kann. Verlieren wir unser Interesse an der Freiheit, wird sie uns geraubt.

Freiheit wird oft mit Individualismus gleichgesetzt. Wird Liberalismus deshalb heute als Herrschaft des Einzelnen missverstanden?
Der heutige Liberalismus fokussiert nur einen Aspekt: Rechte. Rechte sind aber stets mit Pflichten verbunden. Wenn ich das Recht beanspruche, etwas zu tun, muss ich bestimmte Pflichten respektieren. Wenn ich das Wahlrecht fordere, muss ich auch die Pflicht wahrnehmen, mich zu informieren, um vernünftig wählen zu können. Es wäre wichtig, wenn im öffentlichen Diskurs die Begriffe Rechte und Pflichten wieder gemeinsam benutzt würden.

Vergangene Generationen haben aber in unseren Gefilden dafür gekämpft, sich von allem Autoritären zu lösen.
Ja, früher wurde stets von Pflichten, statt von Rechten gesprochen. Wir sind heute in das andere Extrem gefallen: Wir sprechen von Rechten, aber nicht mehr von Pflichten. Der klassische Liberalismus verbindet aber beides miteinander: Ich muss mit meiner Freiheit verantwortlich umgehen.

Wie sind diese Verpflichtungen zu verstehen?
Ich lebe in einer Gesellschaft mit anderen Menschen zusammen. Wir sind dazu verpflichtet, diese Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Bestimmte Werte und Institutionen, die dem Allgemeinwohl dienen, müssen beschützt werden. Alexis de Tocqueville hat den Begriff Individualismus Mitte des 19. Jahrhunderts geprägt und gesagt: Individualismus ist der Rückzug in die Privatsphäre. Individualismus ist schlecht. Ich würde deswegen eher von Subjektivismus sprechen.

Das heißt?
Das Subjekt bezieht sich bei Immanuel Kant zum Beispiel immer auf eine allgemeine Vernunft und auf universelle Werte. Das Problem ist, dass wir heute in einer individualistischen anstatt in einer subjektivistischen liberalen Gesellschaft leben. Wir müssten ein anderes Bild des Individuums haben. Die Menschen dürfen nicht einfach glauben, sie seien ein Atom, das sich nur um sich selbst zu kümmern habe.

Was bedeutet dies mit Blick auf die Freiheit?
Wenn ich Freiheit fordere, muss ich gleichzeitig ein System fordern, in dem die Freiheit weiterhin bestehen kann.

Luxemburg hat eine repräsentative Demokratie in Form einer konstitutionellen Monarchie. Wäre solch ein aufgeklärter Liberalismus in Luxemburg überhaupt denkbar? Der Großherzog hat in vielen Fragen theoretisch noch immer das letzte Wort.
Das Problem liegt nicht beim Großherzog. Die großen klassischen liberalen Denker hatten kein Problem mit der Monarchie, ab dem Moment, als man sie zu begrenzen begann und es zur konstitutionellen Monarchie wie in Luxemburg kam. Der Großherzog arbeitet keine Gesetze aus, er unterschreibt sie nur. Das ist mittlerweile ein automatischer Akt geworden. Großherzog Henri weiß, dass er aus Eigeninteresse besser daran tut, sie zu unterschreiben.

Das Problem liegt also bei der «Chamber»?
Ja, in der «Chamber» herrscht immer noch das starre Partei- und Blockdenken. Wenn ein Abgeordneter anders als seine Partei abstimmt, bekommt er Ärger. Man kennt ja solche Fälle aus der Vergangenheit. Parteien sind ein wichtiges Instrument in einer Demokratie, aber sie dürfen nicht zu geschlossenen Kreisen werden, in denen jeder im militärischen Drill Anweisungen befolgt und eigenes freies Denken verboten ist.

Ist das nicht ein wenig arg idealistisch? Die Volksparteien kämpfen um jedes elektorale Krümelchen. Es wird ihnen vorgeworfen, kein klares Profil zu haben. Ist Abstimmungstreue denn nicht das letzte Mittel, damit Parteien geschlossen handeln können, um das so dem Wahlvolk zu verkaufen?
Verkaufen ist ein guter Begriff. Die Parteien verkaufen sich heutzutage. Beim bevorstehenden Wahlkampf gibt es wieder Plakate in Luxemburg. Die hat man auch bei den «Solden». Hier werden einem halt Kandidaten verkauft und man erhält Geschenke. Man müsste diesen ganzen Prozess überdenken.

Inwiefern?
Die Parteien müssen wieder Inhalte vermitteln. Man muss die Menschen dazu bringen, sich wieder mit diesen Inhalten auseinanderzusetzen. Sie haben vorhin von «idealistisch» gesprochen. Wir brauchen eine Dosis Idealismus, wenn wir diese Welt verändern wollen. Wir können nicht einfach sagen: «Et geet net anescht». Doch, es kann anders laufen. Wir dürfen nicht glauben, dass Parteien es alleine schaffen. Die ganze Gesellschaft ist gefordert. Wir glauben immer, der Staat löse unsere Probleme. Das kann der Staat aber nicht, wenn wir nicht mithelfen. Es ist eine kollektive Verantwortung.

Die Trennung von Kirche und Staat ist einer der wenigen Fälle, der zu angeregten Diskussionen in Luxemburg geführt hat. Wie analysieren Sie diese Episode?
Blickt man hinter die Fassade, erkennt man korporatistische Interessen. Klassische liberale Denker haben gesagt: Staat und Kirche sollen voneinander getrennt sein. Dies sei für beide Seiten gut.
Eine Kirche, die ihr Geld vom Staat erhalte, sei eine Kirche, die vielleicht nicht protestiere, wenn der Staat falsche Entscheidungen träfe. In Luxemburg geht es für die Kirchenfabriken vor allem um Geld. Ich glaube deswegen nicht, dass es in Luxemburg eine prinzipielle Diskussion über dieses Problem gegeben hat …

…sondern?
… es gab einerseits bestimmte Parteien, die antiklerikal waren. Sie haben auch ganz gute Gründe, antiklerikal zu sein. Der Klerus ist alles außer vorbildlich. Das Problem ist aber, dass der Antiklerikalismus auch ein Anti-Religionsdenken war. Man hat ausgeblendet, ob Religionen auch eine gesellschaftliche Rolle erfüllen können – unabhängig vom Klerus. Die andere Seite hat geglaubt, sie werde nun geschlachtet. Sie hat sich in ihrem Diskurs ebenfalls radikalisiert. Deswegen haben wir die aktuelle Situation.

Die wäre?
Offiziell wird gesagt, Kirche und Staat seien voneinander getrennt. Dabei werden die religiösen Gemeinschaften aber noch zum Teil staatlich finanziert. Das kann man irgendwo verstehen, weil man Priester nicht einfach auf die Straße setzen kann. Das war eine pragmatische Lösung, die in einem liberalen Rahmen denkbar ist. Man kann aber nicht davon sprechen, dass es sich um einen idealen Zustand handelt.

Wie haben Sie die Diskussion um die Abschaffung des Religionsunterrichts erlebt?
Ich hatte damals darauf hingewiesen, dass das klassische Modell mit der Wahl zwischen Religions- und Moralunterricht überlebt ist. Ich finde aber auch das jetzige Modell nicht gut. Ich war der Meinung, dass man einerseits einen neutralen Unterricht über Religionen für jeden anbieten soll, damit man Religion in der Geschichte, der Literatur, der Kunst und so weiter besser einordnen kann.
Andererseits hätte man einen Kursus anbieten können, in dem man sich wirklich mit moralischen und ethischen Fragen hätte auseinandersetzen können, ohne dabei spezifisch auf Religionen einzugehen.

Nuancieren ist nicht die Stärke von Politikern, Klerikern und anderen Interessenvertretern…
Ich bin ein einsamer Schreier in der Wüste. (lacht) Bildungsminister Claude Meisch (DP) hat auch gar nicht verstanden, was ich vorgeschlagen habe. Ich hatte ihn bei einem Rundtischgespräch darauf angesprochen. Er sagte: «Ihr Vorschlag bedeutet auch eine Trennung.» Nein, eben nicht.

Eine Partei wie die LSAP träumt davon, dass sie etwas wie die «laïcité» im kleinen katholischen Luxemburg umsetzen könnte. Sozialisten müssen sich aus historischen Gründen für ihre Wähler gegen die Kirche wehren, weil in ihrem Namen gelogen, betrogen, gestohlen und gemordet wurde. Der Versuch, die Kirche einzudämmen, war doch bitter nötig. Können die Sozialisten vor diesem Hintergrund überhaupt vernünftig über religiöse Inhalte diskutieren, ohne sich den Vorwurf des «Gepaafs» gefallen lassen zu müssen?
Es gibt verschiedene Modelle der Laizität. Das französische Modell ist radikal: Der Staat soll absolut nichts mit Religion zu tun haben. Selbst ein Weihnachtsbaum beim Rathaus bedeutet den Weltuntergang. Das amerikanische Laizitätsmodell ist viel offener.

In Frankreich soll die Trennung den Staat vor der Religion schützen, in den USA schützt sie die Religion vor dem Staat.
Ja, die Amerikaner akzeptieren, dass es die Religion als gesellschaftliches Phänomen gibt. Religion motiviert viele Menschen zum Einsatz für ihre Mitmenschen. Ob diese Religion wahr oder interessant ist, interessiert sie nicht. Sie kümmern sich nur um den Nutzen der Religion für die Gesellschaft.
Das französische Modell ordnet Religion als etwas rein Privates ein, von dem nur das Individuum betroffen ist und das keine sozial wichtige Rolle spielen kann. Das ist schade. Ich finde es deswegen auch schade, dass sich die LSAP eher am französischen als am amerikanischen Modell der Laizität orientiert.

Sie haben aber vorhin selbst erwähnt, dass der Klerus, historisch betrachtet, für sehr viel Leid und Probleme verantwortlich war.
Eine der Kräfte, die der Religion am meisten geschadet hat, war die Kirche selbst. Sie hat alle ursprünglichen Botschaften des Christentums vergessen, um ihre eigenen Machtstrukturen aufzubauen. Ich habe noch vor Kurzem mit einem Geistlichen gesprochen, der zu mir sagte: «Ech sinn antiklerikal.» Er hat bedauert, dass in der Kirche wieder ein gewisser Klerikalismus entsteht.

Wie macht sich dies bemerkbar?
Die katholische Kirche hat auch in Luxemburg Opposition aus den eigenen Reihen während Jahrzehnten kleingehalten. Sie wollte vom Kurs abkommen und wurde zurechtgewiesen. Ich verstehe deswegen, dass man auch heute noch eine Abwehrreaktion gegenüber der Religion hat, aber das bedeutet nicht, dass sie unbedingt vernünftig begründet ist.

Wie meinen Sie das?
Die LSAP muss sich die Frage gefallen lassen, ob ihre Botschaft nicht auch religiöse Wurzeln hat. Werte wie Solidarität stammen aus dem Christentum – ob man das wahrhaben will oder nicht. Wenn man das versteht, kann man auch die antiklerikalen Kräfte in der Kirche unterstützen, anstatt die Religion dem rein Privaten zu überlassen.

Die Realität ist doch, dass die katholische Kirche heutzutage fast gar keine Rolle mehr für die meisten Menschen in Luxemburg spielt. Wieso soll eine progressive Partei sich dieser Frage überhaupt noch widmen?
Das stimmt. Glaube ich an etwas Transzendentales? Das ist reine Privatsache. Man muss aber auch berücksichtigen, dass es Menschen gibt, die wegen ihres Glaubens zu bestimmten Handlungen motiviert werden können.

Sie kritisieren in Ihrem jüngsten Buch die Idee des Philosophen Jürgen Habermas, dass wir in einem «nachmetaphysischen» Zeitalter angelangt sind. Wieso? Der Verweis auf das Christentum mag historisch stimmen, wenn es um Werte wie Solidarität geht. Allerdings hat doch zum Beispiel die Charta der Vereinten Nationen mit ihren universalistischen Werten heute einen quasi religiösen Ersatzcharakter entwickelt. Das Christentum hat doch tatsächlich ausgedient?
Durchaus. Eine Gesellschaft braucht dennoch Transzendenz. Diese muss aber nicht eine religiöse Form annehmen. Das heißt aber wiederum nicht, dass man versuchen soll, die religiöse Form auszulöschen. Wir erleben vielleicht in Luxemburg den Rückgang des Christentums, allerdings sieht das auf globaler Ebene anders aus. Auch mit Blick auf den Islam geht die Entwicklung in eine andere Richtung als in Luxemburg.

Dennoch lebt doch eine Partei wie die LSAP oder auch «déi Lénk» davon, dass sie antiklerikal ist.
Man muss nur eine Passage aus dem Neuen Testament lesen, in der Jesus die Händler aus dem Tempel vertreibt. Dazu muss ich sagen: heute würde er das Gleiche mit den «Pafen» in der Kirche tun. (lacht) Gerade deswegen beharre ich ja darauf, dass solche religiösen Texte zum Allgemeinwissen gehören sollten.
Sie sind nicht als Geschichtsbücher zu verstehen, sondern als Widerstandsquelle, um Widerstand gegen jene Kräfte in unserer Gesellschaft zu leisten, die versuchen, ihre Macht zu missbrauchen und durchzusetzen. Religion spielt hier neben vielen anderen Lebensbereichen wie Musik und Kunst eine Rolle. Und ganz nebenbei: in Luxemburg muss uns auch die Trennung von Kunst und Staat beziehungsweise von Kunst und Wirtschaft gelingen.

Ein ähnliches Beispiel ist das jüngst verabschiedete Vermummungsverbot. Es streift die Fragen der Religiosität ebenfalls. Passt solch ein Verbot zur Regierung des liberalen Premiers Xavier Bettel (DP) und zu einem grünen Justizminister wie Felix Braz?
Die erste Frage lautet: Gibt es überhaupt ein Problem? Nehmen wir mal an, es gäbe eins. Ich bin der Meinung, dass alle Menschen ihr Gesicht zeigen sollen. Es stellt sich die Frage, weshalb eine Frau sich vermummt. Den Koran kann man von Anfang bis Ende durchlesen: es steht nicht drin, dass die Vermummung Pflicht ist. Es wird nur gefordert, dass man die Brust bedecken soll, was man auch mit einem Schal tun kann. Deswegen ist es kein Vergehen gegen die Religionsfreiheit, wenn man das Vermummungsverbot durchsetzt. Allerdings muss es so allgemein gehalten werden, dass es nicht nur eine spezifische Religion visiert.

In Luxemburg spricht man auch umgangssprachlich vom «Burkaverbot» …
Das darf eben nicht sein. Man hätte vor 30 Jahren solch ein Gesetz ausarbeiten sollen. Dann würde heute niemand mehr darüber diskutieren. Jetzt verbietet man maximal einem Dutzend Frauen, sich zu vermummen. Dabei wäre ein elektronisches Vermummungsverbot wichtiger.

Sie reden von der digitalen Anonymität?
Ja, es gibt Menschen, die anonym publizieren. Ich finde das schlimmer, als sein Gesicht zu verstecken. Darüber spricht aber niemand. Wenn man aber seine Meinung äußern will, sollte man dies mit seinem Namen tun.

Können Sie aber nachvollziehen, dass die Kritiker des Vermummungsverbots eine erneute Bevormundung der Frauen befürchten?
In dem Fall müsste man auch bei Sportevents Frauen verbieten, die von den Veranstaltern dazu gezwungen werden, halb nackt zu posieren. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der nicht nur ein paar Frauen von ihren Männern vorgeschrieben bekommen, wie viel sie zu verstecken haben, sondern in einer Gesellschaft, in der Männer ihnen vorschreiben, wie viel sie zu zeigen haben. Die Sexismus-Debatte der letzten Monate hat das auf einer ganz anderen Ebene gezeigt.

Sie kritisieren die Doppelstandards?
Ja, man sollte in dieser Frage keine Doppelstandards anwenden. Frauen sollen gegen Männer, die ihnen etwas aufdrängen wollen, geschützt werden. Aber das soll dann für alle Frauen gelten und nicht nur für ein paar muslimische Frauen in Luxemburg, von denen man nicht einmal weiß, ob es tatsächlich der Mann ist, der von ihnen verlangt, sich zu vermummen, oder ob sie das so wollen.

Eine hypokritische Diskussion also?
Ja, absolut. Nur weil ein paar Leute geglaubt haben, es würden Hunderttausende Terroristen nach Luxemburg kommen, weil ein paar vermummte Frauen mit uns leben. Jeder soll sein Gesicht zeigen und man sollte den Dialog mit diesen Frauen suchen und die Ursachen ihrer Vermummung herausfinden. Aber das Vermummungsverbot ist pure Hypokrisie.

Haben Sie die Abgeordneten während der Debatten über das Vermummungsverbot verfolgt? Reißt sich der Philosoph bei so viel Plattitüden nicht die Haare vom Kopf?
Wir haben heute Parteien, die sich nicht mehr auf eine Weltsicht berufen. Die Sozialisten basieren sich nicht mehr auf den Sozialismus, weil er altmodisch ist. Der Marxismus lässt nur Jean-Claude Juncker zum größten Marxisten werden. Die Liberalen haben keine Doktrin mehr. Die CSV ist ein bisschen von allem. Ich war selbst lange bei «déi gréng». Wir sind aber heute weit davon entfernt, als noch Politiker wie Muck Huss eine Rolle gespielt haben. Auch die «gauche» … die Parteien sind verwässert.
Es kommt nur noch zu Debatten, wenn es um fundamentale Freiheiten geht. Aber es wird nicht mehr ausgehend von Theorien und damit verbundenen Werten sowie Menschenbildern Politik betrieben. Das sollte man wieder aufleben lassen. Deswegen auch meine Botschaft an die Liberalen: Werdet endlich wieder liberal.

Wie absurd wirkt die Wachstumsdebatte in Luxemburg auf Sie?
Bestimmte wirtschaftliche Akteure wie China oder die USA machen, was sie wollen. Wir kleine Luxemburger haben keinen Einfluss darauf. Was aber dort passiert, hat einen Einfluss auf uns. Wenn ein Politiker ehrlich wäre, müsste er sagen: «Ech kann näischt maachen». Problematisch sind Politiker, die glauben, sie könnten etwas bewirken. Man denke an ArcelorMittal Düdelingen, weil ein Werk abgetreten wird. Dann wird sich aufgeregt. Wenn aber ein Werk von ArcelorMittal in Belgien aufgegeben worden wäre, damit etwas Neues in Luxemburg entsteht, hätte sich jeder gefreut.

Aus überzeugten Europäern werden auf einmal Populisten…
Ja, das Problem ist der nationalistische Egoismus – trotz der Europäischen Union. Wir reden groß von Europa und Solidarität zwischen den Ländern, aber an sich ist die EU eine Summierung der nationalen Egoismen, bei der jeder nur mitmacht, weil er glaubt, dass es ihm deswegen besser geht. Das ist problematisch. Deswegen nimmt der Liberalismus heute die Form des Wirtschaftsliberalismus an.

Liberalismus wird oft mit Neoliberalismus verwechselt.
Genau, wenn man heute zu jemandem Liberalismus sagt, denkt er an Neoliberalismus. Und Neoliberalismus mit seinen absolut freien Märkten ist Unsinn. Denn die Theorie der freien Märkte stammt aus einer Zeit, als es noch keine Monopolisten gab. Man glaubte an eine unsichtbare Hand, die dafür sorgt, dass sich der Markt von selbst regelt.
Die Prämissen der freien Marktwirtschaft gibt es aber heute gar nicht mehr. Wir haben heute gar keine freie Marktwirtschaft mehr. Heute gibt es etwas, das sich als freie Marktwirtschaft darstellt, aber nur ein paar Akteure bestimmen, wo es langgeht und bauen durch das Aufkaufen von Gegnern ihre Monopolstellungen aus. Die Staaten sind Marionetten in den Händen dieser Wirtschaftkonzerne.