Mit dem neuen Jahr bricht auch eine neue Zeit für Karin Kremer an. Sie wird in den folgenden Monaten ihre letzten Schritte im „Mierscher Kulturhaus“ vollziehen. Bald unter Stress rennend, bald tanzend und manchmal sicherlich auch schleichend, um in aller Ruhe genau das zu betrachten, was sie an ihrem letzten Arbeitsplatz vor der Rente mitgeprägt hat.
Wer in den letzten Jahren das breit aufgestellte Programm des Merscher Kulturhauses studiert hat, erkennt, dass einzigartige Akzente gesetzt wurden, niemand sich auf Selbstläufern ausruhte und vor allem luxemburgische Kreationen ihren festen Platz haben durften. Ebenso liest man den Willen heraus, sehr unterschiedliche, eventuell noch nicht bespielte Publikumsarten anzusprechen. Was aber steht zwischen den Programmzeilen und wie viel sagt dies über die Hausherrin Karin Kremer aus, die in dieser Miniatur-Kulturhochburg seit mehr als einem Jahrzehnt die Geschicke leitet? Ein Gespräch mit einer kulturellen Akteurin, die dieses Jahr Abschied von einem Job nehmen wird, der ihr am Herzen liegt.
Das Büro jener Frau, die manch einer in der luxemburgischen Kulturszene als „stramm“ oder auch „streng“ bezeichnet, ist alles andere als protzig und pompös. Vielmehr findet man ein Räumchen vor, in dem sich etliche Papiere, also Bestandteile des bürokratischen „Tralala“, wie Karin Kremer es nennt, neben dem Computer stapeln. Auf einem Schreibtisch, der Blicke auf Familienfotos (dazu gehört auch ihr Kater, der sie beruhigt, wenn sie mal wütend oder traurig von der Arbeit kommt) erhaschen lässt.
In diesem kleinen Reich finden erstaunlich viele Bücher Platz und interessanterweise handelt es sich dabei überwiegend um Kinderliteratur. Karin Kremer zufolge gelingt es diesem Genre oftmals am besten, Dinge auf den Punkt zu bringen, sie so zu beschreiben, wie sie nun mal sind. Wer mit Kremer spricht, fühlt sich ein wenig an „Lotta aus der Krachmacherstraße“ erinnert. Das kecke, kleine Mädchen aus der Feder Astrid Lindgrens hat es nämlich nicht immer leicht mit seinem Umfeld, würde trotzdem nie blind zu gehorchen, nur um zu gefallen. „Diplomatie wurde mir nicht unbedingt in die Wiege gelegt“, sagt Karin Kremer selbstironisch und lacht. Wie die kleine abenteuerlustige Lotta zieht auch sie es vor, die Realität mit einer kräftigen Portion Humor und Kreativität in Angriff zu nehmen.
Karin Kremer ist seit mehreren Jahrzehnten Teil der Kulturszene, verbrachte kurze Zeit als die, wie sie es selbst beschreibt, „schlechteste ’Fonctionnairin‘, die man sich vorstellen kann“, im Kulturministerium und kooperierte als Direktorin des „Mierscher Kulturhaus“ mit vielerlei lokalen, nationalen wie internationalen Akteurinnen und Akteuren. Sie hat sich in all der Zeit nicht nur Freunde gemacht, aber manch ehemaliger Kooperationspartner meint auf Kremer angesprochen: „Karin ist besser als ihr Ruf.“ Hierauf regiert Karin Kremer gelassen: „Ich bin nicht bequem. Das war ich noch nie. Ich will es auch nicht sein. Wenn jemand so was sagt, dann schmeichelt mir das eigentlich. Es gibt Menschen, mit denen arbeitet man sehr gerne zusammen, und es gibt welche, mit denen man arbeiten muss. Wir sind ein ’Service public‘, das vergessen viele. Und ich bin ein Teil davon.“
Das kommunale Kulturzentrum, das Kremer seit nunmehr 13 Jahren leitet, liegt an einem Ort, den viele Minetter schon als „Hondséislek“ bezeichnen, obwohl dies nicht den geografischen Fakten entspricht. Trotz der Tatsache, dass man das Kulturhaus innerhalb Luxemburgs leicht erreicht, bringt die Lage auch potenzielle Schwierigkeiten mit sich. Zum einen habe es schon eine Weile gedauert, bis das Publikum bereit gewesen sei, sich zu mobilisieren, um Kultur außerhalb der großen Zentren zu erleben. Andererseits sei es eine große Herausforderung, ein passendes Angebot zu schaffen, wenn in unmittelbarer Nähe andere Institute wie das CAPE in Ettelbrück oder der Mamer „Kinneksbond“ vielfältige Programmen auffahren. Absprachen und gemeinsame Koordination seien in diesem Fall unabdinglich.
In Bezug auf die hauptstädtischen Institute merkt sie an, dass man nicht in Konkurrenz zueinander stehe, sondern eher komplementär funktioniere: „Wenn die kleinen Institute ihren Job nicht machen, ist die Metropole auf einmal nur noch eine Oase. Dann muss das Publikum durch eine Wüste schreiten, bevor es überhaupt dort ankommt. Wir spielen auf der Ebene der Förderung nationaler Künstler eine Rolle, die es wahrzunehmen gilt.“
Als „fremde“ nicht ortsansässige Person in der Gemeinde Mersch sei es zumindest zu Anfang nicht immer einfach gewesen, Potenziale zu erkennen und das Vertrauen der Einwohner zu gewinnen. Aber es soll wohl einmal ein „Stack-Mierscher“ zu Kremer gesagt haben: „Ich glaube, Sie kennen Mersch besser, als wir es tun.“ Laut der gebürtigen Schifflingerin ein wundervolles Kompliment. „Ich durfte nicht nur hier arbeiten, sondern darüber hinaus auch mehr sein. Das ist mir sehr viel wert.“ Unter anderem von einer über 90-jährigen Wirtin in Mersch habe sie gelernt, dass man sich konstruktiv einbringen muss, statt nur zu verlangen, akzeptiert zu werden. Diese „grande dame“ sowie auch andere Menschen, denen sie während ihrer beruflichen Laufbahn begegnet ist, hätten ihr beigebracht, dass „wenn man gibt, man nicht unbedingt immer etwas zurückbekommt, aber die Chancen größer sind, als wenn man nur fordert“.
Im Programm des „Mierscher Kulturhaus“ fand und findet man noch immer Produktionen, die längst nicht nur der abendfüllenden Unterhaltung dienen. Nicht selten ging es in dem letzten Jahrzehnt zum Beispiel um soziale Ausgrenzung, verbale wie non-verbale Gewalt und den Tod. Kremer ist diese Konfrontation wichtig. Es gelte indes, stets Feingefühl miteinfließen zu lassen. In Bezug auf ein Stück über Vergewaltigung, das ihr am Anfang ihrer Zeit in Mersch vorgeschlagen wurde, berichtet sie: „Das Wichtigste war für mich, dass wir einen Moment finden, in dem das Publikum aussteigen kann, wenn es nicht mehr geht. So etwas muss man dann auch ohne Urteil und Wertung akzeptieren.“
Karin Kremer sieht ihren Job unter anderem darin, unbequeme Fragen zu stellen. Ebenso gehe es aber auch darum, die Antwort auszuhalten. Diese Haltung illustriert die Direktorin des „Mierscher Kulturhaus“ mit einer Anekdote von einem Puppentheaterstück über den Tod, zu dem zwei Klassen nicht erschienen. Zehn Minuten vor Beginn der Vorstellung sei sie zum gegenüberliegenden Gymnasium gelaufen und habe den Direktor gefragt, ob er schnell zwei Klassen zusammentrommeln könne. (Und das, obwohl die Zielgruppe des Stücks eigentlich jünger sein sollte.) Es funktionierte.
Zum Schluss fragte ein stattlicher Jugendlicher Karin Kremer, ob er mit der Handpuppe sprechen dürfe. Sie ging das Risiko ein und das Gespräch zwischen dem Burschen und der Figur begann: „Niemand fragt mich, warum ich so rebellisch bin in letzter Zeit, warum es mir manchmal reicht.“ Als die Puppe dann wissen wollte, warum, entgegnete er, dass sein Großvater verschieden sei, niemand ihm jedoch zutraue oder zugestehe, traurig zu sein.
„In diesem Moment hätte man eine Haarspange im Raum fallen lassen können und es wäre einer Atombombe gleichgekommen“, schildert Karin Kremer die damalige Situation. Ihrer Auffassung nach hat sich das Wagnis gelohnt, denn eben dieser junge Mann kommt heute noch ab und an ins Kulturhaus. „Es sind diese Menschen, für die man das immer wieder macht.“
Willkommenskultur
Überhaupt ist die „Publikums-frage“ Kremer ein großes Anliegen und es hat für sie allerhöchste Priorität, dass sich im Merscher Kulturhaus jeder willkommen fühlt. Das scheint jedoch nicht immer der Fall zu sein: „Sie glauben nicht, wie oft ich heute noch gefragt werde: ’Dürfen wir hier rein?‘ Das ist wahnsinnig!“ Und das, obwohl lediglich Menschen rausgeschmissen werden würden, die sich herausnehmen, darüber zu richten, welche Mitglieder der Gesellschaft dazugehören dürften und welche nicht. „Da gab es mal eine Frau, der ich klarmachte, dass die von ihr als ’diese Menschen‘ bezeichneten Personen unser Haus über die Hauptstraße durch die Haupttür in den Hauptsaal betreten, und wenn ihr das nicht passen würde, sie gerne den Nebeneingang nutzen könne. Sie kam nie mehr zurück.“
Ihrer Auffassung nach hat sich in den letzten Jahren bei der Inklusion verschiedenster Menschen schon etwas getan in der Kulturszene. Gleichzeitig habe man aber zu lange am Menschen vorbei investiert. Dementsprechend bleibe die Einbindung vieler gesellschaftlicher Gruppen eine wichtige und schwere Aufgabe, die es zu lösen gelte. Eben auch nach ihrem Fortgang.
Kremer wird häufig als herrlich unbürokratisch und pragmatisch beschrieben. Unemotional oder gar kalt ist sie jedoch keineswegs: „Es darf im Miteinander nicht unter die Gürtellinie gehen, aber darüber liegen noch der Magen, das Herz und der Kopf. Man sollte alle drei zusammensetzen und schauen, was dabei rumkommt.“
Dass heutzutage alles zehnfach abgesichert sein muss, kann Karin Kremer nicht nachvollziehen. Eine gewisse Risikobereitschaft spiele eine essenzielle Rolle, wenn man von etwas überzeugt sei und „wann et der op d’Noss gëtt, da gëtt et der eben!“ Man müsse bereit sein, hinter seinem Haus, seinem Team und seinem Programm zu stehen. Bei Letzterem gebe es für sie vor allem ethische, ästhetische und menschliche Grenzen, die sie zu überschreiten nicht bereit wäre, schon gar nicht um des finanziellen Gewinns wegen.
Zumal man im kulturellen Bereich oft problematische Kriterien anwende, um ein etwaiges Gelingen zu bewerten: „Es muss immer alles sofort sein. Es darf sich nichts erst morgen
ergeben. Häufig lautet die Frage nur: Wie viele Besucher waren da? Scheinbar zählt allein die Quantität. Heutzutage geht es oft nur darum, zu gewinnen und viel zu besitzen, aber sind wir dadurch zufriedener? Haben wir dadurch unseren Geist stärker geöffnet? Wissen wir dadurch besser, wie wir miteinander klarkommen können?“
Entschleunigungsprozess
Vieles von dem, was Karin Kremer sagt und tut, ist durchaus auf die eine oder andere Weise politisch. Ihrer Auffassung nach werden (nicht nur) in der luxemburgischen Politik zu häufig Grenzen überschritten, indem sich aus dem Topf, der für alle da ist, „erst selbst, zwar nicht in die eigene Tasche, aber auf andere Art“ bedient wird. Im kulturellen Bereich müsse man ab und an ganz schöne Strapazen auf sich nehmen, um schlappe 1.500 Euro zu bekommen, während „an anderer Stelle förmlich mit Geld um sich geschmissen“ werde. In Bezug auf die Kulturpolitik fragt sie sich als langjährige Beobachterin: „Wird sie ernst genommen? Ist sie etwas wert? Was bedeutet sie eigentlich? Und für was wird sie ge- und be-nutzt?“
Ihr sei es wichtig, in die Szene reinzuhorchen und die Frage zu stellen, ob „wir es fertiggebracht haben, den Menschen einen Rucksack mitzugeben, aus dem sie sinnvoll schöpfen können. Ist es uns gelungen, unser Publikum mit uns mitgehen zu lassen, es zu fördern, manchmal auch zu überfordern?“ Dies habe teilweise funktioniert, andererseits hätten verschiedene Akteure sich selbst mehr in Szene gesetzt als die Sache an sich und somit sei die eigentliche Aufgabe aus dem Fokus gerückt.
Karin Kremer hat auch einige Kaleidoskope in ihrem Büro stehen. „Ich mag sie, denn die Welt, die man betrachtet, bleibt zwar gleich, aber die Dinger erlauben einen anderen Blick auf das, was man sieht.“ Ähnlich hält sie es mit den neuen Generationen, die jetzt oder bald die kulturellen Zügel in den Händen halten. „Es braucht diese Akteure und es ist gut, dass sie Verschiedenes ganz anders machen werden. Sie können undsollen manches umstrukturieren. Was wirklich zählt, ist, dass sie nichts auf Kosten anderer zerstören.“ Was hierbei helfe, sei Geduld und dass man sich selbst manchmal nicht so unglaublich ernst nehme. Vor allem müsse man scheitern lernen. Gerade daraus habe sie am meisten gelernt.
„Auch ich bin in all den Jahren manchmal an eine gläserne Decke gestoßen, die ich einfach nicht wahrhaben wollte.“ Niedergeschlagen habe sie hierbei besonders, dass sie manches im Voraus nicht erkannt habe oder habe einsehen wollen. So habe sie beispielsweise auch mal Veranstaltungen absagen müssen, weswegen Betroffene dann zu Recht „queesch“ und enttäuscht gewesen seien. Aber dieses Lehrgeld gehöre zum Prozess dazu. „Wenn du nur gehypt werden willst, dann solltest du aufhören“, ergänzt Karin Kremer. Auch sei es wichtig, einstecken zu können, wenn man selbst austeile. „Traurigerweise gingen manche Freundschaften kaputt, durch falsch formuliertes Hinterfragen meinerseits. Das bedaure ich zutiefst. Wenn ich heute noch einmal in der gleichen Situation wäre, so würde ich zwar vielleicht die gleiche Frage noch einmal stellen, aber ich würde mir lange und gut überlegen, wie ich sie formuliere.“
Ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin werde sie beileibe keine Minen hinlegen, sondern vielmehr mit ihr oder ihm gemeinsam die ersten Schritte gehen und aufzeigen, wo Minenfelder sein können. Was ihre eigene Zukunft anbelangt, so weiß Kremer lediglich, dass es Zeit für eine weitere Etappe wird und dass sie „sicherlich nicht anfangen wird, (ihren) allerliebsten Mann jeden Tag zu bekochen“.
Unter anderem Reisen stehen auf dem Programm sowie ein gesellschaftliches Engagement in einer anderen Form und Rolle. Bis dahin werden laut Karin Kremer noch einige Tränen fließen. Hoffentlich mit mindestens einem lachenden Auge.
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