Von Cristiana Rodrigues Costa, Myriam Lameiras Borges und Alexandra Da Costa
Seit über 15 Jahren lebt Nathalie Scheer-Pfeifer mit der Diagnose ALS. Die Schüler haben sie getroffen und sich mit ihr über ihr Leben und den Umgang mit der Krankheit unterhalten.
Dieser Artikel gehört zu unserer Spezialausgabe zum Tag der Pressefreiheit. Wir haben den Schülern das Wort gegeben, die eine eigene Zeitung zusammengestellt haben. Lesen Sie hier die restlichen Artikel: ►Link
Wie alt waren Sie, als Sie diese Krankheit bekamen?
28 Jahre alt und 30, als die Diagnose gestellt wurde.
Wie haben Sie auf diese schlechte Nachricht reagiert?
Anfang 2002 bekam ich dann schlussendlich die Diagnose ALS, dies war ein Schock für die ganze Familie. Anfangs war Verzweiflung unser ständiger Begleiter. So begann unsere Suche nach dem Wunderarzt, der mich, entgegen aller Prognosen, hätte heilen können. Wir waren in Luxemburg, in Bonn, in Lüttich und in Paris. In Paris boten sie mir sogar an, ihr «Versuchskaninchen» zu werden, ohne Hoffnung für mich, aber zum Wohl der zukünftigen ALS-Patienten. Ich lehnte dankend ab. Wir begriffen sehr schnell, dass die Ärzte uns damals nicht wirklich helfen und/oder beraten konnten. Wir versuchten, uns so gut es eben ging zu organisieren.
Was mich an ALS anfangs tierisch nervte, war, dass es nicht sichtbar war. Ist man von einer neuromuskulären Erkrankung betroffen, bekommt man sehr schnell einen Stempel aufgedrückt. Die einen denken, man sei depressiv, die anderen denken, man hätte ein Alkohol- und/oder Medikamenteproblem. Die Unsicherheit beim Gehen und die undeutliche Artikulation geben das Bild einer betrunkenen und/oder tablettenabhängigen Person ab. Im fortgeschrittenen Zustand einer ALS-Erkrankung denken die meisten außenstehenden Menschen, aufgrund der schwachen Gesichtsmimik und der Unfähigkeit zu sprechen, man sei schwer von Begriff oder schwerhörig. Heute kann ich nur schmunzeln, wenn Menschen, die mich zum ersten Mal sehen, mich in einfacher Sprache ansprechen oder anschreien. Man muss lernen, die Reaktionen der Menschen mit Humor zu nehmen, denn eigentlich sind diese nur ein Zeichen ihrer Unsicherheit und Unkenntnis.
Was meiner Meinung nach sehr wichtig ist, ist das Festhalten am normalen Alltag, mit seinen Höhen und Tiefen. Es ist vollkommen verständlich, dass man anfangs mit allem überfordert ist und dass man Nabelschau betreibt. Man muss aber nach einer Zeit wieder davon wegkommen, sonst wird man noch «ganz kirre» im Kopf. Auch wenn man sich auf den Kopf stellt und laut brüllt, so ändert das nichts an der Situation. Die Situation ist und bleibt, wie sie ist, man verbrennt nur seine Kraft vergeblich. Also nahmen wir uns vor, nicht mehr die Krankheit in den Vordergrund zu stellen, sondern unsere kleine Familie. Wir wollten so lange wie möglich zusammenbleiben. Wenn ich schon bald an ALS sterben sollte (durchschnittliche Lebenserwartung normalerweise zwischen drei und fünf Jahren), so wollte ich die Zeit, die uns bleibt, nicht mit Depressionen oder Jammern vergeuden. Dies war erst einmal nur Theorie, denn ich sah, wie meine Liebsten unter der Belastung meiner immer komplizierter werdenden Pflege zugrunde gingen. Ich fragte mich, ob meine Familie so leiden muss, nur weil ich leben möchte. Es kann doch nicht sein, dass ich mir meinen Tod herbeiwünschen muss, um meine geliebte Familie zu erlösen.
Was hat sich in Ihrem Körper verändert, seit Sie diese Krankheit haben?
Die unheilbare, neuromuskuläre Krankheit ALS hat bewirkt, dass ich im eigenen Körper sozusagen «lebendig einbetoniert» wurde. Ich spüre zwar alles, aber ich kann mich nicht mehr bewegen. Reagieren kann ich nur durch Bewegungen mit den Augen und mit den Augenbrauen. Sprechen, schlucken usw. geht schon lange nicht mehr. Ernährt werde ich über eine Magensonde und ich werde zudem künstlich beatmet. Alle meine Texte schreibe ich über meinen augengesteuerten Kommunikationscomputer.
Im Mai 2000 fing ich an, mein linkes Bein nachzuziehen und beim Treppenabsteigen zitterte mein linker Fuß unkontrolliert. Im September suchte ich endlich einen Neurologen auf und musste sofort für eine Woche ins Krankenhaus, um mich verschiedenen Untersuchungen zu unterziehen. Es wurde auch versucht, ob eine Woche intensive intravenöse Behandlung mit Cortison helfen würde. Obwohl der Verdacht auf ALS schon am Anfang bestand, waren die ersten Tests negativ gewesen.
Wie hat sich Ihr Leben seither verändert? Wie schaffen Sie es, mit der Krankheit zu leben?
Klar bin ich gezeichnet von ALS und damit kam ich anfangs überhaupt nicht klar. Ich war Vorschullehrerin und gewohnt, vor Menschen zu sprechen und zu handeln. Die meisten Menschen sind nämlich überfordert, wenn ihr Gegenüber scheinbar nicht reagiert oder es fehlt ihnen an Kenntnis, Geduld, Feingefühl oder schlichtweg an Zeit. Und dann die Unsicherheit beim Gehen …! Ich schämte mich und fühlte mich vom eigenen Körper schrecklich verraten! Damals zog ich mich auch aus dem Leben zurück und vergrub mich in Büchern. Heute sehe ich das gelassener, ich versuche, gut gepflegt zu sein und fertig! Als Vorstandsvorsitzende von «Wäertvollt Liewen» sehe ich es heute als meine Pflicht an, zu zeigen, dass man als ALS-Betroffener oder chronisch-kritisch kranker Mensch immer noch Spaß und Freude am Leben haben kann.
Durch tägliche Meditationen stellte sich nach und nach innerer Frieden bei mir ein. Natürlich klappte das alles nicht sofort. Ich gestattete mir immer «Heultage», an denen ich alles rausweinte, was sich an Angst, Trauer und vor allem Frust angesammelt hatte. Danach konnte ich wieder gestärkt weitermachen. Über die Jahre hinweg haben sich die Abstände immer mehr verlängert. Der letzte Heultag ist nun viele Jahre vergangen. Ist es nicht eine Gnade, dass jeder aktiv an seiner inneren Einstellung arbeiten und sein Leben als wertvoll empfinden kann? Besonders bei einer degenerativen und unheilbaren Krankheit wirkt diese Akzeptanz des Lebens ungemein belebend auf unsere inneren Kräfte.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich in den Jahren mit ALS gewonnen habe, ist folgende: Ärzte, Heilpraktiker, Therapeuten oder Medikamente können helfen, aber «sich heil fühlen» liegt in der Selbstverantwortung eines jeden Menschen. Jeder Mensch hat mehr oder weniger schwere Schicksalsschläge erlebt. Wir alle können frei und selbstbestimmt in unserem Innersten wählen, ob wir unser Leben in der Rolle des aktiv Handelnden oder des hilflosen Opfers gestalten möchten.
Unsere Tochter Jil war im Jahr 2000 noch so klein, dass ich unmöglich sterben konnte. Sie brauchte mich doch noch! Ich setzte mir selbst immer wieder kleine überschaubare Ziele in nächster Zukunft vors Auge. Zum Beispiel noch zu leben bei Jils Kommunion, den letzten Teil der Trilogie «Lord of the Rings» zu sehen, die Vorfreude auf den Frühling, auf ein Fest … anzustacheln. Aber das war nur meine persönliche Eselsbrücke. Dank der Liebe und Unterstützung, die mir geschenkt werden, schätze ich meine Lebensqualität als sehr hochwertig ein. Ich fühle mich heute heiler als in der Zeit, als ich scheinbar noch «gesund» war.
Wie geht Ihre Familie mit dieser Krankheit um?
Denken Sie bitte nicht, dass bei uns alles «Frieden, Freude, Eierkuchen» ist! Wie in jeder Ehe müssen wir uns tagtäglich bemühen, aufeinander zuzugehen, uns in Respekt und Toleranz üben … Wir streiten uns auch und dann knallen zwei Sturköpfe aufeinander! Jean-Marc hat zum Glück gelernt, nicht mehr ALS zu sehen, wenn er mich anschaut, sondern mich als Menschen. Ich denke, Mitleid hilft keinem, nur Mitgefühl, Empathie, Toleranz und Respekt vermögen anderen zu helfen.
Wir wissen, dass wir sehr viel Glück hatten und noch immer haben. Der Verlauf meiner ALS war gottseidank so langsam, dass wir Zeit hatten, uns an die neuen Umstände anzupassen und uns daran zu gewöhnen. Meine Familie hilft und unterstützt mich von Anfang an und schenkt mir Unmengen von Liebe, wofür ich unendlich dankbar bin. Dafür hadere ich nicht mit meinem Schicksal und versuche, meine Verantwortungen so gut wie möglich zu erfüllen. Es wäre doch ein Schlag ins Gesicht meiner Lieben, wenn ich trotz ihrer Liebe und Unterstützung nur vergrämt und verbittert wäre. Es muss ein Geben und Nehmen sein! Manchmal ging unsere ganze Familie durch die Hölle. Doch wir machten einfach weiter. Meine Mutter pflegte mich, solange es ihr körperlich möglich war. Meine Schwiegermutter wusch lange unsere Wäsche und geht seit Jahren für uns einkaufen. Mein Schwiegervater macht alles drumherum, was nötig ist, zum Beispiel schmückt er zusammen mit unserer Tochter Jil unseren Weihnachtsbaum. Dies ist jetzt Tradition geworden.
Ich habe meinen guten Ehemann Jean-Marc einmal gebeten, er solle sich gut überlegen ob er bleibt oder ob er sich lieber jetzt verkrümelt, bevor «es schmutzig wird»! Zum Glück war für ihn klar, dass er bleibt! Er ist der Allerbeste! ALS hat jeden von uns so gefordert und überfordert, dass wir zusammenwachsen mussten zum Überleben!
Sie haben ein Buch geschrieben. Wann haben Sie es geschrieben? Und warum?
Mit meinem Kochbuch «Wäertvollt Iessen, das etwas andere Kochbuch» wollte ich zeigen, dass das Leben nicht mit einer Diagnose wie ALS aufhört und durchaus lebenswert sein kann. 2010 fing ich an, Rezepte auszuwählen und umzuschreiben. Im Oktober 2011 wurde es so langsam konkret. Arlette, Henri, Jean-Marc, unsere Tochter, die Damen aus meinem Team und ich wuchsen in dieser ganzen Zeit zu einem richtigen Dreamteam zusammen. Im November 2013 kam es dann auf den «Walfer Bicherdeeg» raus.
Wie kamen Sie auf die Idee, den Verein «Wäertvollt Liewen» zu gründen?
Lebensziele und Projekte helfen einem über sein eigenes Leid hinweg. Im Februar 2012 gründeten mein Ehemann Jean-Marc, Freunde, Betroffene und ich den eingetragenen Verein «Wäertvollt Liewen» in Luxemburg. Übersetzt bedeutet dies «Wertvolles Leben». Unser Bestreben ist es, Menschen, die von ALS oder ähnlichen Erkrankungen betroffen sind, zu unterstützen, insbesondere im Zusammenhang mit persönlicher Assistenz und häuslicher Intensivpflege, falls dies der Wunsch des oder der Betroffenen sein sollte. Viele Menschen behaupten, wir seien eine Ausnahmefamilie. Dies schmeichelt uns zwar, entspricht aber nicht der Realität. Ohne die uns gebotene Hilfestellung und Unterstützung wären wir von der Verzweiflung überrannt worden. So konnten wir uns aber zurücklehnen, durchatmen und zu dem werden, was wir heute sind, trotz oder vielleicht sogar gerade wegen ALS. «Wäertvollt Liewen» wurde gegründet, um anderen Betroffenen auch die Möglichkeit zu geben, «Ausnahmemenschen oder -familien» zu werden. Nur eine innere Lebensbejahung kann zu Momenten des Glücks führen. Wir wollen ALS-Betroffenen helfen, die genau wie wir vor einigen Jahren auch durch die Hölle gehen mussten und nicht so viel Glück wie wir hatten. Unser Ziel ist es, die für chronisch kritisch-kranke Menschen notwendige Infrastruktur Schritt für Schritt aufzubauen. Dazu gehören nicht nur ein persönliches Unterstützungsnetzwerk und eine ambulante Intensivpflege, sondern auch ein multiprofessionelles Therapiezentrum.
Waren Sie ein Fan von Stephen Hawking?
Auf jeden Fall! Er war ein Wegbereiter für behinderte und/oder kranke Menschen. Zu seiner Zeit hatten Behinderte noch fast keine Rechte und wurden meistens in spezielle Anstalten abgeschoben. Professor Hawking hat der ganzen Welt bewiesen, dass behinderte und kranke Menschen, mit der nötigen Unterstützung viel erreichen und bewirken können. Ohne ihn würde die Wissenschaft ärmer aussehen. Für mich ist Professor Hawking ein Vorbild.
Wie lange sitzen Sie schon im Rollstuhl?
Seit 2003 ungefähr …
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