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Die verborgenen Kräfte des Kirchberg

Die verborgenen Kräfte des Kirchberg

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Unkraut. Das ist das Erste, was den meisten in den Sinn kommt, wenn sie die Pflanzen sehen, die Vivian Craig in ihrem Buch als Heilpflanzen vorstellt. Und dass dieses «Unkraut» auch noch ganz besondere Kräfte in sich trägt, scheint noch abstruser. Wir haben uns die Wissenschaft dahinter während einer Heilkräuterführung über den Kirchberg von der Autorin persönlich erklären lassen.

Zur Person

Vivian Craig ist ausgebildete Phytotherapeutin. Studiert hat sie die Pflanzenheilkunde an der University of East London. Ihr bereits zweites Studium, das sie begonnen hat, als die meisten ihrer Gleichaltrigen sich schon Gedanken um frühzeitige Pensionierung und die damit verbundene Freiheit machten.

Aber Vivian wollte es noch einmal genau wissen und wagte den Schritt in eine ganz andere Fachrichtung. Als sie noch jünger war, studierte sie nämlich Sprachwissenschaften an der University of New Zealand, wo sie zu der Zeit noch lebte. Sie arbeitete an verschiedenen Orten der Welt als Übersetzerin und Lehrerin. Sie ist gebürtige Schottin und kam vor 30 Jahren nach Luxemburg. Inzwischen hat sie die luxemburgische Identität angenommen.

«Für mich hat die Entdeckung eines völlig neuen Wissensfeldes zugleich Herausforderung und Befreiung bedeutet. Es hat mir die Augen sowohl für die Kraft und die Zerbrechlichkeit der Natur geöffnet. Ich habe Respekt dafür bekommen, wie hart unser Körper arbeitet, um uns zu schützen. Er tut alles dafür, damit wir funktionstüchtig bleiben, trotz der oft lockeren Haltung unserer Gesundheit gegenüber.»

«Ich will den Menschen ein Gefühl dafür geben, dass das, was sie in ihrem Garten und ihrer Umgebung als Unkraut betrachten, in Wirklichkeit wertvolle Bestandteile unserer Umwelt sind», sagt Vivian Craig. Das ist das Ziel, das sie mit ihrem Buch und der daran angepassten Heilkräuterführung anstrebt. Denn auf Kirchberg wächst in der Tat fast alles, was eine gute Hausapotheke braucht. Im Buch sind insgesamt 30 Heilpflanzen aufgelistet und es gibt sogar noch mehr.

Bei der ersten Führung, die am 11. April stattfand, hatte sich eine beträchtliche Gruppe zusammengefunden. Bei Sonne satt war ein informativer Spaziergang über den Kirchberg für viele eine willkommene Feierabendaktivität. Nachdem jeder eines der liebevoll gestalteten Handbücher erhalten hatte, ging der Spaziergang los. Lange musste nicht nach den kleinen Wundermitteln gesucht werden. Nach nur wenigen Schritten durch den Park hinter der Coque entdeckt Vivian das erste heilende Kraut: Spitzwegerich. «Der wirkt vor allem bei Haut- und Lungenerkrankungen sowie bei Problemen des Verdauungstrakts. Spitzwegerich, auf Luxemburgisch «Weebreet», ist ein wertvoller Lieferant für Zink, Magnesium und Kalium», erklärt sie, während sie ein zuvor gepflücktes Blatt der unauffälligen Pflanze zwischen ihren Fingern hält.

Kein Heilkräutergarten

Einige Meter weiter eine andere Pflanze, deren Nutzen unsere Großmütter noch zu schätzen wussten. Heute wird sie von den meisten als unangenehm stechendes Unkraut abgetan. Die Rede ist von der Brennnessel. Egal ob als Tee, im Salat oder in der Suppe: das Grünzeug, von dem zurzeit reichlich in Luxemburgs Wäldern und Wiesen wächst, birgt viele Überraschungen. Es punktet mit hohem Vitamin-, Mineralstoff- und Eisengehalt und kann Bluthochdruck senken sowie den Blutzuckerspiegel ausgleichen.

Die Idee zur Heilkräuterführung ist Vivian selbst bei einem Spaziergang über den Kirchberg gekommen. «Wissen Sie eigentlich, wie viele Heilpflanzen in den Wiesen auf dem Plateau wachsen, habe ich Marianne Bausch vom Fonds Kirchberg gefragt.» Vivian schlug vor, einen Kräutergarten anzulegen und wurde sofort mit Thierry Helminger in Kontakt gebracht. Er ist beim «natur musée» verantwortlich für alles, was mit Pflanzen zu tun hat. «Er war nicht begeistert von der Idee. Er machte mich darauf aufmerksam, wie unnatürlich und gleichzeitig kosten- und zeitintensiv so ein Garten wäre», erzählt Vivian weiter. Er gab ihr dann auch den nötigen Denkanstoß dazu, dass es besser sei, den Menschen beizubringen, wie sie die heilenden Pflanzen selbst erkennen und richtig einsetzen können.

Gesagt, getan. Vivian machte sich daran, das Buch über die Heilkräuter auf dem Plateau zusammenzustellen. «Der Text war am Anfang vier Mal so lang wie in der fertigen Fassung», lacht sie. In der musste sie sich dann doch auf die wesentlichen Informationen beschränken. Dass das Buch auf Deutsch, Französisch und Englisch erschienen ist und auch die Führungen in den drei Sprachen stattfinden, ist nicht verwunderlich, wenn man Vivians Hintergrund kennt. Sie hat Sprachwissenschaften studiert und danach jahrelang als Übersetzerin und als Lehrerin gearbeitet. «Eigentlich wollten wir das Buch auch noch auf Luxemburgisch herausbringen, aber das hätte leider den Preis für die Druckkosten gesprengt.» Deshalb habe man sich darauf beschränkt, die Pflanzennamen auf Luxemburgisch dazuzuschreiben: «Die meisten Luxemburger, mit denen ich geredet habe, kennen die luxemburgischen Namen der Pflanzen nicht. Sie sind mit dem deutschen Namen aufgewachsen. Deshalb fand ich es wichtig, diesen Aspekt mit einzubringen.»

Lokal essen ergibt Sinn

Welche Bedeutungen Pflanzen auch heute noch für die Medizin haben, ist kaum jemandem bewusst. Schließlich haben die Pillen, Sirups und Sprays aus der Apotheke nichts mehr mit dem saftigen Grün gemein. «Bevor ich Pflanzenheilkunde studiert habe, dachte ich auch, das hätten nur die Mönche im Mittelalter benutzt.» Aber: «Mindestens 50 Prozent der Medikamente, die heute in der Standart-Medizin verwendet werden, kommen von Pflanzen», behauptet Vivian Craig. «Entweder benutzt die Pharmaindustrie immer noch das Pflanzenmaterial oder sie hat es geschafft, dessen Moleküle chemisch zu synthetisieren.» Das klappe allerdings nicht immer, weil eine Pflanze Hunderte von verschiedenen Chemikalien beinhaltet, die alle in Synergien zusammen wirken. Die moderne Medizin sei langsam an ihrem Ende angekommen und neige sich wieder immer mehr den Pflanzen zu, meint Vivian.

Die Führungen sind besonders wichtig für Vivian Craig: «Wenn ich mit den Menschen persönlich rede, kann ich vieles erklären und mich davon überzeugen, dass sie das wichtigste verstanden haben. Nämlich, dass eine Pflanze auch Schaden anrichten kann, wenn sie falsch behandelt oder für die falsche Ursache verwendet wird. Wenn es so einfach wäre, bräuchte ja keiner Pflanzenheilkunde zu studieren», lacht sie. Zusätzlich seien die Treffen aber auch eine tolle Gelegenheit, interessante Menschen kennenzulernen und gemeinsam Zeit in der Natur zu verbringen.

Egal ob Heilkräuter oder Obst und Gemüse, Vivian Craig unterstreicht, wie sinnvoll es ist, wenn Menschen Pflanzen aus der eigenen Umgebung essen. Und das nicht nur, weil dadurch der ökologische Fußabdruck deutlich verringert wird: «Diese Pflanzen sind der gleichen Luft, der gleichen Erde und auch den gleichen negativen Einflüssen (Mikroben usw.) ausgesetzt wie wir. Sie haben Kräfte dagegen entwickelt, die auch unserem Körper zunutze kommen.»