Von unserem Korrespondenten Hagen Strauß, Berlin
Küsschen links, Küsschen rechts, ein bisschen vom anfänglichen Zauber ihrer Beziehung ist dann doch zurückgekehrt während ihres Treffens in Berlin. Auch bei der Bedeutungsschwere ihrer Worte sind die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron gestern Hand in Hand gegangen: Eine «historische Aufgabe» liege vor ihnen: die Neugestaltung, sogar die «Neubegründung» Europas. Das mag etwas dick aufgetragen sein, ist aber wahr.
Die Europäische Union, das Friedensprojekt schlechthin nach dem Zweiten Weltkrieg, steckt seit langem in einer tiefen Krise. Die Institution ist in die Jahre gekommen und sie wirkt bürokratisch aufgeplustert. Wirtschaftlich sowie finanztechnisch ist sie nach wie vor instabil, nicht zuletzt wegen des Brexit. Darüber hinaus sind die EU-Staaten außenpolitisch von einer gemeinsamen Linie weit entfernt, so dass sich ihr Gewicht in der Welt vor allem auf ihre ökonomische Macht beschränkt. Das ist in einer so konfliktreichen Zeit wie momentan zu wenig. Und seit der Flüchtlingskrise hat sich auch noch die Sicht einiger Mitgliedsländer erheblich verschoben, wofür die Europäische Union steht und welche Werte sie zusammenhält. Kurzum: Der Reformbedarf ist immens. Damit auch den Menschen auf dem Kontinent wieder klarer wird, welch große Errungenschaft die europäische Einigung ist.
Der Weg dahin mittels konkreter Maßnahmen ist freilich das Problem. Für Merkel und für Macron. Der Franzose hat seine pro-europäische Leichtigkeit zum Teil verloren, das war auch beim Treffen in Berlin zu spüren. Der Motor stottert, weil von vielen Seiten Sand ins französische Getriebe geworfen worden ist, gerade auch von der deutschen. Dennoch hat Macron es geschafft, Frankreich als neue europäische Gestaltungsmacht zu etablieren. Das ist sein Pfund. Obwohl seine Ideen von zusätzlichen Investitionen, von der Vollendung der Bankenunion bis hin zu einem gemeinsamen Finanzminister die vielen Europa-Skeptiker wachgerüttelt haben.
Chance für Kompromisse
Doch anders als andere klammert Macron die Differenzen eben nicht aus. Er schafft so Chancen für Kompromisse. Und nur darüber kann Europa funktionieren. Demgegenüber sind Angela Merkels konkrete Ideen für die Neugestaltung der EU noch diffus. Die Kanzlerin hat sich schwergetan mit einer Antwort auf den forschen Macron. Das hat etwas mit der langwierigen Regierungsbildung in Deutschland zu tun.
Aber nicht nur. Merkel muss sich langsam vortasten, weil ihre Spielräume in ihrer wohl letzten Amtsperiode zunehmend begrenzt sind. Auch das war gestern herauszuhören. Zuletzt hat die Unionsfraktion mit einer internen Europadebatte der Kanzlerin klargemacht, dass sie Macrons Weg der europäischen Vertiefung nicht mitgehen wird. Überraschend ist das nicht, denn seit der Griechenland-Rettung ist die Union europapolitisch misstrauisch geworden. Noch ist unklar, wie Merkel die Widerstände ausräumen will, gleiches gilt für Macron.
Doch die Zeit drängt. Es muss endlich klarer werden, wohin die Reise für Europa konkret gehen soll. Küsschen links, Küsschen rechts hilft da nur bedingt.
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