In einer Zeit der schnellen technologischen Veränderungen ist es eine Schande, dass fast zwei Millionen Menschen in diesem Jahr an Tuberkulose sterben werden, weil sie zu arm sind, um sich die Behandlung leisten zu können. Und tatsächlich ist der Grund, warum Tuberkulose noch immer Menschenleben fordert, ganz einfach: Gleichgültigkeit.
Von Joanne Liu und Paul Farmer*
Die Ursache dieser Gleichgültigkeit ist der tödliche Irrglaube, TB sei eine Krankheit der Vergangenheit – ein Irrglaube, der sich hartnäckig hält, obwohl allein 2016 10,4 Millionen Menschen an Tuberkulose erkrankten. TB-Patienten sind normalerweise machtlos, wenn es darum geht, die Aufmerksamkeit der Welt zu erlangen. Obwohl diese Krankheit jeden treffen kann, plagt sie hauptsächlich marginalisierte und gefährdete Gruppen an Orten wie Flüchtlingslager, Slums und Gefängnissen.
Ein anderer Irrglaube ist, dass es viele Behandlungsmethoden für TB gibt, obwohl die Krankheit weiter mutiert. Aber multiresistente TB-Erreger (MDR-TB) sind eine ernsthafte Bedrohung. TB wird manchmal auch «Ebola mit Flügeln» genannt. Beide Krankheiten sind ähnlich tödlich, aber MDR-TB wird über die Luft übertragen und verbreitet sich damit leichter. Zur aktuellen Behandlung von MDR-TB gehört eine bis zu zwei Jahre dauernde Therapie mit toxischen Medikamenten – einige davon müssen als tägliche, schmerzhafte Injektionen verabreicht werden.
Die Behandlungsoptionen für TB haben sich seit Jahrzehnten kaum weiterentwickelt. Während die Forschungs- und Entwicklungs-Pipelines für HIV/Aids und Hepatitis C weiter Ergebnisse liefern, liegt die R+D-Pipeline für TB weit dahinter zurück.
Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. In den vergangenen vier Jahren hätte die TB-Behandlung revolutioniert werden können. Nachdem 50 Jahre lang kein einziges neues TB-Medikament entwickelt wurde, wurden gleich zwei in rascher Folge zugelassen: Bedaquiline und Delamanid. Das hätte ein Meilenstein im Kampf gegen TB werden müssen, besonders für medikamentenresistente Patienten.
Man hätte gewünscht, eine breitere Koalition von Gesundheitsbehörden, Gesundheitsdienstleistern, normgebenden Behörden, Versicherern und Herstellern wäre den Patienten zu Hilfe geeilt, die diese neuen Medikamenten am dringendsten brauchten. Aber nichts dergleichen ist geschehen.
Stattdessen wurden die neuen Mittel zu Ladenhütern. Seit sie zugelassen wurden, konnten sie nur von kläglichen 5 Prozent der betroffenen Patienten in Anspruch genommen werden. Insbesondere die neuesten Zahlen zu Delamanid sind erschreckend: Nach vier Jahren wurden lediglich 1.247 Patienten mit diesem Medikament behandelt.
Wir würden das wissen, weil viele dieser Patienten in unseren Programmen und in Ländern behandelt wurden, in denen Ärzte ohne Grenzen und Partners in Health die Registrierung und die Nutzung neuer Arzneimittel durchgesetzt haben. Mit der Unterstützung von Unitaid, einer Organisation, die die Mittel einer schmerzlosen Flugsteuer in Richtung vernachlässigter Gesundheitsprobleme armer Menschen lenkt, haben wir die Initiative zur Beendigung von TB (endTB) ins Leben gerufen, um die Nutzung der neuen Medikamente in 17 Ländern mit TB-Epidemien zu fördern.
Es ist schon traurig, wenn Nicht-Regierungsorganisationen und nicht Regierungen, akademische Institutionen und Pharmaunternehmen für die Verwendung verfügbarer neuer Medikamente werben. Wir sind aktiv geworden, weil die Budgets der nationalen TB-Programme nicht reichlich ausgestattet sind und neue Behandlungen daher eher zögerlich eingeführt werden. Zudem haben Pharmaunternehmen wenig Anreize, ihre Medikamente in ärmeren Ländern auf den Markt zu bringen.
Die Beweise, die wir bisher gesammelt haben, weisen darauf hin, dass schwer zu behandelnde Patienten eine höhere Heilungswahrscheinlichkeit haben und sich oft auch schneller erholen, wenn sie die neuen Medikamente nehmen. Angesichts der Verbreitung der globalen TB-Krise ist die Arbeit von endTB jedoch ein Tropfen auf den heißen Stein. Dennoch bietet sie einen Eindruck von dem Ausmaß des allgemeinen Versagens: ein erschreckender Mangel an politischem Willen, Fantasie und Dringlichkeit lässt zu, dass zu unseren Lebzeiten Millionen Menschen sterben, obwohl wir es verhindern könnten.
Im kommenden September werden die Vereinten Nationen ein erstes hochrangiges Treffen zum Thema TB-Krise veranstalten. UN-Mitgliedstaaten sollten diese Gelegenheit nutzen, um zu beschließen, die Mittel von TB-Programmen in der ganzen Welt aufzustocken und ein überholtes F+E-Modell zu modernisieren. Andernfalls wird die Veranstaltung als ein weiteres bedeutungsloses Meeting in die Geschichte eingehen – eines, das zugelassen hat, dass zig Millionen Menschen weiterhin in den Klauen der tödlichsten Infektion der Welt leiden.
Konkret brauchen wir einfachere, schnellere und billigere Wege, um TB zu testen und zu behandeln, insbesondere in abgelegenen und verarmten Regionen. Wir brauchen bessere Mittel, um Infektionen überhaupt zu verhindern und latente Infektionen zu beseitigen, bevor sie uns umbringen. Und natürlich brauchen wir eine robuste Medikamenten-Pipeline, um TB und seine resistenten Formen abzuwehren.
In der Zwischenzeit müssen die Regierungen der von TB geplagten Länder die Mittel nutzen, die ihnen bereits zur Verfügung stehen, zum Beispiel, indem sie sicherstellen, dass diejenigen, die sie brauchen, Zugang zu neuen Behandlungsmethoden wie Bedaquline und Delamanid erhalten.
Ein UN-Treffen ist eine goldene Gelegenheit, Fortschritte zu erzielen. Es wird zwar die TB-Krise nicht über Nacht lösen, aber es ist eine Gelegenheit, TB endlich den Status zu geben der ihr gebührt, nämlich den einer «gesundheitlichen Notlage von internationalem Ausmaß» nach Kriterien der Weltgesundheitsorganisation, wie geschehen bei Ebola und Zika.
Medizinische Experten und natürlich Patienten und ihre Familien sind sich des Ausmaßes der TB-Krise durchaus bewusst. Standardbehandlungen schlagen nicht an und Millionen Menschen werden angesteckt und erkranken und niemanden kümmert es. Im einundzwanzigsten Jahrhundert sollten wir uns alle deswegen in Grund und Boden schämen.
* Joanne Liu ist die internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen. Paul Farmer ist der Mitbegründer von Partners in Health, Professor für globale Medizin und Sozialmedizin an der medizinischen Fakultät der Harvard-Universität und Leiter der Abteilung für globale Gesundheit am Frauenkrankenhaus Brigham.
Aus dem Englischen von Eva Göllner
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