Von unserem Korrespondenten Werner Kolhoff, Berlin
Für das Temperament von Angela Merkel war das eine geradezu aufwühlende Rede. Wer erwartet hatte, die 63-jährige CDU-Chefin würde bei ihrer inzwischen vierten Kanzlerin- Regierungserklärung einen müden Eindruck machen, sah sich getäuscht. Sie packte den Stier bei den Hörnern: die Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik, die gesellschaftlichen Probleme – und sogar ihren neuen Innenminister Horst Seehofer (CSU).
Gleich zu Beginn und dann fast bis zur Hälfte ihrer einstündigen Rede vor dem Bundestag sprach sie von den Wahlverlusten der Parteien der großen Koalition. Sie räumte ein, dass die Debatte um die Flüchtlinge «unser Land bis heute gespalten und polarisiert» habe. Die Flüchtlinge seien ein «Brennglas» der Probleme geworden. Nie hätte sie gedacht, sagte Merkel, dass ein so «banaler Satz wie ‹Wir schaffen das'» solche Debatten auslösen werde.
Ihre eigene Antwort war eine Mischung aus Selbstkritik und trotzigem Beharren. Merkel räumte ein, dass EU und NATO auf die Ereignisse in Syrien zu spät reagiert hätten. Und auch, dass man in Deutschland die Flüchtlingsströme in die Türkei zu lange ignoriert habe. «Das war falsch und naiv.» Zu ihren Entscheidungen vom Herbst 2015 aber stand die Kanzlerin. Deutschland könne stolz darauf sein, so vielen geholfen zu haben sagte sie und kündigte an: «Wir werden auch in Zukunft jenen Schutz geben, die in politischen oder humanitären Notlagen sind.» Nur werde man eben alles tun, «um sicherzustellen, dass sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt».
In die Abteilung Trotz gehörte auch eine Attacke auf Horst Seehofer, der gesagt hatte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Wenn es um die historische Tradition des Christentums gehe, so stimme das zwar, sagte die Kanzlerin, ohne den CSU-Politiker namentlich zu nennen. Doch lebten jetzt 4,5 Millionen Muslime im Land, die mit ihrer Religion nun «ein Teil Deutschlands geworden» seien. «Ich weiß, dass viele ein Problem damit haben, den Gedanken anzunehmen.» Man sah Seehofer auf der Regierungsbank die Verspannung bei diesen Worten förmlich an.
«Deutschland, das sind wir alle»
Der Rest von Merkels Rede widmete sich den sozialpolitischen Vorhaben der Koalition. Das übergeordnete Ziel sei es, Spaltungen zu überwinden und für einen «neuen Zusammenhalt» zu sorgen. Die Bürger sollten am Ende ihrer vierten Amtszeit sagen können: «Die haben in Berlin wirklich aus dem Wahlergebnis gelernt, die haben verstanden.» Die Kanzlerin schloss ihren Vortrag mit einem Zitat ihrer eigenen, ersten Regierungserklärung von 2005: «Ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen», hatte sie damals gesagt. Manche staunten, dass diese Worte schon so alt sind. Merkel ergänzte das um einen neuen Satz: «Heute füge ich hinzu: Deutschland, das sind wir alle.»
Der Beifall in den Reihen der großen Koalition war nicht gerade üppig. Weil die SPD-Leute die Hände nicht so recht zusammenbekamen und die CDU-Abgeordneten zwar deutlich applaudierten, aber nicht aufstanden, machten einige AfDler höhnische Gesten, die aussahen wie «La-Ola-Welle». Alexander Gauland, ihr Partei- und Fraktionschef, hielt zum ersten Mal als echter Oppositionsführer die Antwortrede auf eine Regierungserklärung und widmete sie fast komplett der Flüchtlingspolitik Merkels. Die Masseneinwanderung halte unvermindert an, Deutschland erlebe einen «Rechtsbruch als Dauerzustand».
«Turbulente Jahre»
Die Kritik der anderen Oppositionsparteien war eher zurückhaltend. FDP-Chef Christian Lindner spießte auf, dass Merkel auffallend oft Formulierungen wie «seien wir ehrlich» benutzt hatte. Das werfe die Frage auf, was in den vergangenen zwölf Jahren unter ihrer Kanzlerschaft falsch gelaufen sei. Der Liberale attestierte der großen Koalition mangelnden Reformeifer und fand, dass inzwischen sogar Frankreich mutiger sei. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter begrüßte Merkels Ankündigung, den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschlands zu stärken. Daraus müsse aber folgen, nicht nur Seehofer wegen seiner Islam-Äußerungen, sondern auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wegen seiner Sätze zur Armut zu entlassen.
Mit beiden beschäftigte sich auch SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles in ihrer Rede – als seien sie Schulbuben. Sie verwies auf Seehofers neue Zuständigkeit für Heimat. Die werde auch durch steigende Mieten zerstört. Als Beispiel schilderte Nahles einen besonders krassen Fall von Mietwucher ausgerechnet in München. Dagegen wolle die große Koalition vorgehen. «Ich hoffe, dass wir dazu sehr bald schon Gesetzespakete bekommen.» Ähnlich bei Spahn. Der habe mit den Problemen der Pflege viel zu tun. «Das erfordert die volle Konzentration des zuständigen Ministers.» Lacher sogar in den Reihen der Union. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch prophezeite «turbulente Jahre». Jedenfalls war es ein recht turbulenter Anfang.
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