Von unserem Korrespondenten Eric Bonse, Brüssel
Martin Selmayr, der mächtigste Deutsche in Brüssel, darf auch nach der Europawahl 2019 die Strippen in der EU-Kommission ziehen. Dabei kommt er nicht aus den Schlagzeilen.
Er kann es nicht lassen. Auch nach seiner Ernennung zum neuen Generalsekretär der EU-Kommission in Brüssel sorgt Martin Selmayr für Schlagzeilen. Der mächtigste Deutsche in Brüssel, Spitzname «Monster vom Berlaymont», sorgt sich um die Zukunft der Europäischen Union.
Nach der Europawahl im Frühjahr 2019 drohe eine «institutionelle Blockade», sagte Selmayr der belgischen Zeitung Le Soir. Der Streit um die Spitzenkandidaten, der auch den EU-Gipfel am Freitag beschäftigte, drohe aus dem Ruder zu laufen. Zur Not müsse Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker länger im Amt bleiben.
Dabei wollte Juncker genau das vermeiden. Mit der Beförderung Selmayrs vom Kabinettschef zum Aufseher über mehr als 30.000 Kommissions-Mitarbeiter will er sein Erbe ordnen – Juncker tritt nicht für eine zweite Amtszeit an. Außerdem möchte er seinen bisher engsten Mitarbeiter zu mehr Zurückhaltung zwingen.
Selmayrs lockere Zunge hat schon mehr als einmal für Irritationen gesorgt. Mal legte er sich mit Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble an, mal warb er für die (gescheiterte) Berliner «Jamaika»-Koalition – und immer wieder stach er vertrauliche Informationen an die Presse durch. 2017 sorgte dies für einen handfesten Skandal. Nach einem vertraulichen Treffen Junckers mit Premierministerin Theresa May in London fanden sich brisante Details in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wieder. «Ich bin der einzige, der nichts leakt», beteuerte Juncker. Also muss es einer seiner Mitarbeiter gewesen sein – der Verdacht fiel sofort auf Selmayr.
Vergleich mit Frank Underwood
Dem britischen Guardian gilt er seither als «Brexit Nemesis», als Erzfeind des britischen EU-Austritts, dem jedes Mittel recht sei, um die Verhandlungen mit May zu hintertreiben. Der Telegraph behauptet gar, dass Selmayr die Briten für den Brexit bestrafen wolle. Um dieses Ziel zu erreichen, schrecke er nicht einmal davor zurück, Kanzlerin Angela Merkel zu «manipulieren».
Auch in Frankreich traut man dem 47-jährigen promovierten Juristen so ziemlich alles zu. Mit Frank Underwood, dem rücksichtslosen Strippenzieher aus der US-Serie «House of Cards», verglich ihn Libération. Selmayr kann darüber nur lächeln. Er bevorzugt die ältere Serie «West Wing», wo Martin Sheen einen gütigen Präsidenten spielt.
So will er auch die EU-Kommission führen: «professionell und freundschaftlich». Doch dazu wird sich Selmayr erst einmal Freunde machen müssen. Bisher hat der CDU-nahe Spitzenbeamte mit dem schelmischen Lächeln nämlich vor allem Feinde: Neben Vizepräsident Frans Timmermans, einem Sozialdemokraten, galt vor allem Haushaltskommissarin Kristalina Georgieva als starke Gegenspielerin.
Sie beschwerte sich sogar öffentlich über Selmayrs selbstherrliche Entscheidungen – und zog den Kürzeren: 2017 nahm sie ihren Hut, um zur Weltbank zu wechseln. Ihr Nachfolger wurde Günther Oettinger, der nun gemeinsam mit Selmayr über die Zukunft des EU-Budgets entscheiden darf. Oettinger war es auch, der Selmayr vor Kritik in Schutz nahm: «Er ist kein Undercover-Agent der deutschen Politik», sagte der CDU-Politiker nach der umstrittenen Nominierung am vergangenen Donnerstag.
«Der heimliche Herrscher der EU»
Doch genau dieser Verdacht hält sich hartnäckig, seit Selmayr seine Karriere in Brüssel angetreten hat. «Der heimliche Herrscher der EU» (Der Spiegel) war nie unabhängig von der Politik. Das fing schon mit seinem ersten EU-Job an: Für den Gütersloher Medienkonzern Bertelsmann übernahm Selmayr 2003 die Lobbyarbeit in Brüssel. Empfohlen hatte ihn der CDU-Politiker und Europaabgeordnete Elmar Brok, der ebenfalls bei Bertelsmann arbeitete.
Brok gilt, genau wie Selmayr, als einer der einflussreichsten Strippenzieher in Brüssel, mit direktem Draht ins Berliner Kanzleramt. Schon 2004 wechselte Selmayr in die EU-Kommission, 2010 stieg er zum Kabinettschef von Justizkommissarin Viviane Reding auf. Er versuchte, die Luxemburgerin zur Nachfolgerin von Kommissionschef José Barroso aufzubauen, scheiterte jedoch – und wechselte über Nacht das Lager.
Bei der Europawahl 2014 machte Selmayr dann für Juncker mobil, der zuvor das Placet von Merkel erhalten hatte. Seitdem steht die Achse Merkel-Selmayr, auch wenn es nicht immer harmonisch zugeht. Zum Streit kam es vor allem 2015, als Junckers frisch gebackener Kabinettschef für das taumelnde Griechenland Partei ergriff – und prompt von Schäuble zurückgepfiffen wurde.
Doch schon in der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 war der Schulterschluss wieder perfekt. Selmayr unterstützte Merkels Politik selbst dann noch, als die halbe EU auf Distanz ging. Seither zählt er zu den wichtigsten deutschen Pfeilern in der multinationalen EU-Behörde.
Das dürfte noch lange so bleiben: Als Generalsekretär ist Selmayr nicht mehr von Wahlen und Nominierungen abhängig, er dürfte die Behörde auch noch unter Junckers Nachfolger führen. Selbst wenn es 2019 tatsächlich zu einer Blockade in Brüssel kommen sollte – Selmayrs Macht ist gesichert.
Neue pikante Details
Die EU-Kommission kommt nicht zur Ruhe. Auch eine Woche nach der überraschenden Ernennung des neuen Generalsekretärs Martin Selmayr werden neue pikante Details bekannt. So berichtet der britische Spectator, dass Selmayr dafür gesorgt habe, dass die EU-Kommissare nach ihrem planmäßigen Dienstende 2019 mehr und länger Übergangsgeld erhalten.
Außerdem sollen sie ein Büro in der Kommission und einen Dienstwagen behalten – angeblich will sich Selmayr so das Wohlwollen der Kommissare erkaufen. Denn seine Nominierung durch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker glich einem Coup; angeblich war nicht einmal der für die Personalpolitik zuständige deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger eingeweiht.
Juncker machte seinen bisherigen Kabinettschef erst zum stellvertretenden Generalsekretär, wenige Minuten später aber zum Generalsekretär. Eine Mitbewerberin hatte ihre Kandidatur gerade «rechtzeitig» zurückgezogen. Auf Nachfragen der Journalisten gaben Junckers Sprecher unvollständige und widersprüchliche Antworten.
Nun will das Europaparlament der Sache nachgehen. Das Verfahren zur Ernennung Selmayrs sei undurchsichtig gewesen, kritisierten Bart Staes von den Grünen und Dennis de Jong von der Vereinigten Europäischen Linken. Auch französische Europaabgeordnete fordern Aufklärung: Juncker solle persönlich Rede und Antwort stehen, verlangen sie in einem Brief, der dem Tageblatt vorliegt. Denn die Affäre drohe, das Vertrauen der Bürger in die EU weiter zu schwächen
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