Von unserem Korrespondenten Thomas Roser, Pristina
Den ausgelassenen Unabhängigkeitsfeiern vor zehn Jahren sind in Kosovo längst Ernüchterung und Enttäuschung über den ausgebliebenen Aufbruch in bessere Zeiten gefolgt. Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit machtden Bewohnern des Staatenneulings noch stets zu schaffen. Und eine echte Aussöhnung mit Ex-Mutterland Serbien ist weiter nicht in Sicht.
Die bunten Banner sind verschwunden: Flagge wird in den Fenstern und auf den Balkonen im wintergrauen Pristina im zehnten Jahr der Unabhängigkeit kaum mehr gezeigt. Nur vereinzelt und lustlos baumeln Kosovos gelb-blaue Landesfahne und Albaniens Doppeladler vor Behörden, Ministerien und Kriegsmonumenten im eiskalten Wind. Trotz der Ankündigung von Volksfesten ist von der Jubelstimmung der Unabhängigkeitsfeiern am Vorabend des freudlosen Geburtstags nichts mehr zu verspüren.
Verblichen sind die Fotos albanischer Vermisster des Kosovokriegs von 1999, die mit Draht an den Zaun des Parlaments gewickelt sind. „Etwas anderes, viel mehr“ habe er erwartet, gesteht der Fliesenleger Aftim auf der Bank neben dem nahen Denkmal des Freiheitsstreiters Ibrahim Rugova. „Wir hatten gehofft, dass es jeden Tag besser werden würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Meine Hoffnung auf bessere Zeiten wird jeden Tag kleiner.“
Schwer lastet der Smog über den Anhöhen des Wohnviertels „Sunny Hill“. Mit „düsteren Jubiläumsfeiern“ rechnet Luzlim Peci, der Direktor des Kipred-Instituts. Die Kosovaren seien zur „Geisel ihrer schlechten Führung“ geworden: „Die Leute fühlen sich von den eigenen Institutionen, aber auch der Internationalen Gemeinschaft betrogen. Wir sind nun da, wo wir sind – weit weg von den einstigen Erwartungen.“
Vor einem Jahrzehnt
Tagelang knallten vor einem Jahrzehnt die Feuerwerkskörper und Sektkorken, als das zuvor zehn Jahre von der UN verwaltete Kosovo mit Unterstützung Washingtons und der wichtigsten EU-Staaten, aber gegen den Willen Belgrads, die endgültige Loslösung von Serbien erklärte. Das Schreckensszenario eines neuen Waffengangs trat nicht ein. Aber der Aufbruch in bessere Zeiten blieb genauso aus wie eine echte Aussöhnung mit dem einstigen Kriegsgegner: Auch wegen des anhaltenden diplomatischen Sperrfeuers Belgrads und Moskaus hat sich Kosovo eher schlecht als recht auf dem internationalen Parkett etabliert.
Zwar haben mittlerweile 111 der 193 UN-Mitglieder Kosovo anerkannt. Doch nicht nur der Beitritt zu UN, Europarat oder Interpol, sondern auch der Wegfall der Visapflicht bei Reisen ins Schengen-Reich lässt weiter auf sich warten: Vor allem die Tatsache, dass fünf EU-Mitglieder Kosovo nicht anerkennen, erschwert Pristina die Annäherung an Europas Wohlstandsbündnis.
„Zumindest gibt es keinen Krieg mehr“; sagt im Büro des Veteranenverbands der dunkelhaarige Lkw-Fahrer Sadik. Als Mitglied der einstigen Befreiungsarmee UCK hatte der heute 44-Jährige im Kosovokrieg gekämpft. Nach dem Krieg habe er auf ein „normales Leben“ gehofft. Die Lage habe sich seitdem zwar verbessert – „allerdings nicht in dem Maße, wie wir das erhofft hatten“. Vor allem die Wirtschaft sei ein Problem: „Viele haben keinen Job, hängen auf den Straßen und in den Cafés herum. Die Arbeitslosigkeit ist einfach sehr groß.“
Staatspräsident Hashim Thaci legt Blumen nieder
Draußen, vor den großen Scheiben des Cafés „Matisse“, legt Staatspräsident Hashim Thaci Blumen vor dem Denkmal des UCK-Mitbegründers Zahir Pajaziti nieder. Drinnen erzählt Kellner Haris Shala, wie er vor drei Jahren auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben überstürzt das Land verließ: Auf 70.000 bis 100.000 junge Kosovaren – fast fünf Prozent der Bevölkerung – wurde Anfang 2015 die Zahl derer geschätzt, die sich beim sogenannten „Exodus“ in wenigen Wochen in Richtung Deutschland aufmachten.
Er habe die überhastete Massenflucht schon damals für „keine Lösung“ gehalten, sagt Haris im Rückblick: „Ich ging nur, weil ich meinen kleinen Bruder nicht alleine reisen lassen wollte.“ Als chancenloser Asylbewerber kehrte der 25-Jährige nach einem halben Jahr freiwillig aus dem badischen Waldenbuch in seine Heimat zurück. Doch der gescheiterte Ausbruch hat den eifrig Deutsch paukenden Shala in seiner Auswanderabsicht nur bestärkt. Eine Arbeit in einem Restaurant auf Borkum habe er bereits gefunden, er warte nur noch auf ein Arbeitsvisum. Deutschland sei einfach ein „gut geregelter Staat“, preist er sein „Lieblingsland“: „Dort werden die Leute wenigstens anständig und regelmäßig bezahlt.“
Die offizielle Arbeitslosenrate Kosovos liegt bei 35 Prozent, die Jugendarbeitslosenrate bei 55 Prozent: Deren tatsächliche Zahl wird noch höher geschätzt. Die Mehrheit der 1,9 Millionen Einwohner muss mit weniger als dem Durchschnittslohn von 350 Euro über die Runde kommen: Viele halten sich nur mit den Überweisungen ausgewanderter Angehöriger über Wasser. Europas blaues Sternenbanner baumelt über dem Eingang des Eulex-Hauptquartiers in der Muharrem-Feijza-Straße. Fast so alt wie der Staatsneuling ist die ebenso größte wie kostspieligste EU-Mission der Geschichte. Zeitweise bis zu 2.000 Polizisten, Zollbeamte, Richter und Staatsanwälte zählte die seit Ende 2008 tätige Rechtshilfemission.
Enttäuscht von Amtsträgern wie von Schutzmächten
Viel hat Eulex beim erhofften Aufbau einer effizienten Justiz und der Bekämpfung der Korruption trotz eines fürstlichen Budgets nicht bewirkt. Im Gegenteil: Wie die berüchtigte frühere UN-Verwaltung Unmik ist auch Eulex mittlerweile selbst in den Verdacht der Korruption geraten. Dass viele Kosovaren nicht nur von den eigenen Amtsträgern, sondern auch von den Schutzmächten enttäuscht sind, erklärt Peci mit der Unterstützung fragwürdiger Machthaber: „Aus Stabilitätsgründen haben sie immer die Kerle unterstützt, die das Land führten.“
Abgebrannte Kerzenstümpfe und Plastikblumen markieren im serbischen Norden der geteilten Stadt Mitrovica den Tatort eines Attentats, das die verunsicherte Gemeinschaft zutiefst erschüttert hat: Mit sechs Schüssen in den Rücken wurde der liberale Oppositionspolitiker Oliver Ivanovic am 16. Januar vor dem Eingang seines Büros in der Sutjeska-Straße ermordet. Ob unter der früheren UN- oder jetzigen Eulex-Ägide: Sicher fühlt sich die auf unter 100.000 Menschen geschrumpfte serbische Minderheit in ihrer Heimat schon seit 1999 nicht mehr. Doch es ist mittlerweile weniger die Furcht vor albanischen Extremisten als vor serbischen Dunkelmännern, die wie ein Alptraum über Nord-Mitrovica lastet.
Ganz in Schwarz gekleidet sitzt Ksenija Bozovic in dem Sessel und unter dem Porträt ihres früheren Chefs. Verbittert berichtet die stellvertretende Vorsitzende der oppositionellen SDP über Drohungen und Attacken, denen sich der 64-Jährige ausgesetzt sah. Ob Brandanschläge auf sein Auto und Büro, ob das Demolieren der Wohnung oder die zweifelhafte Kriegsverbrecher-Anklage, die den unbequemen Befürworter eines Ausgleichs mit den Albanern zwischen 2014-2017 fast drei Jahre in der Untersuchungshaft verschwinden ließ: „Sie haben ihm alles angetan, was möglich war – und ihn am Ende auch noch ermordet.“
Die Dauerwarnungen von Ivanovic über die bedrohliche Sicherheitslage im rechtlosen Mafia-Eldorado des serbisch besiedelten Nordkosovo fanden weder in Belgrad und Pristina noch bei Eulex oder den westlichen Botschaften Gehör. „Niemand nahm ihn ernst oder bot Hilfe an – alle sind für seinen Tod mitverantwortlich“, sagt Ksenija Bozovic.
Als «Verräter» verteufelt
Von der von Belgrad ferngesteuerten Einheitspartei der „Serbischen Liste“ wurde der unbequeme Ivanovic vor den Kommunalwahlen im Herbst als „Verräter“ verteufelt: „Sie haben ihm die Zielscheibe auf die Stirn gezeichnet.“ Nicht nur die Familie des Getöteten sei bereits nach Belgrad umgezogen: „Viele denken daran, wegzuziehen. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst – und der Stille.“
Grau glänzen in Pristina die einst gelb getünchten Lettern des Unabhängigkeitsdenkmals „Newborn“ in der fahlen Mittagssonne. Die Wiederholung des Musicals „Bordell Balkan“ kündigt ein Plakat vor dem Nationaltheater an. Kosovo werde noch „durch viele Schwierigkeiten“ gehen müssen, prognostiziert Peci. Doch „letztendlich werden wir als Land Erfolg haben – auch wenn das Zeit benötigt“, ist er überzeugt.
Bis Kosovo ein „normaler Staat“ werde, sei „mehr als ein Menschenleben“ nötig, fürchtet hingegen Handwerker Aftim. Früher habe er seiner Tochter stets gesagt, dass sie im Ausland studieren dürfe, sofern sie danach zum Aufbau des Landes wieder heimkehren werde: „Nun studiert sie in England und ich sage ihr, bleib dort, wenn Du die Möglichkeit hast.“ Doch eigentlich wolle jeder Vater sein Kind gerne um sich haben: „Ist es nicht furchtbar, wenn man der eigenen Tochter sagen muss, dass sie besser nicht mehr wiederkommen soll?“
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können