Ein Forumsbeitrag von Frank Bertemes
«Ich bin durchaus nicht zynisch, ich habe nur Erfahrung – und das ist so ziemlich dasselbe.» – Oscar Wilde
Zynisch. Im Sinne von gemein, schamlos, beißend, spöttisch. Dieser Vorwurf kann durchaus drohen, wenn sich der kritische Bürger erdreistet, als interessierter Beobachter des Zeitgeschehens seine Gedanken öffentlich und schriftlich mitzuteilen – was einigen durchaus nicht gefällt. Denn auch wenn sich gewisse Vertreter der politischen Klasse, besonders in Wahlkampfzeiten, nach außen hin als große Demokraten aufspielen, auf einmal von Basisdemokratie faseln und sich entsprechend volksnah geben – man vergesse ihre Masken nicht! –, so reagieren nicht wenige von ihnen oft sehr mimosenhaft auf des Wahlvolks kritische Bemerkungen.
Kritik, die normalerweise in einer wahren Demokratie doch nur normal sein müsste! Politiker, die sich heute in einem zeitweise fast schon peinlichen Wahlpositionskampf innerhalb der diversen Parteien befinden und für die es erst einmal darum geht, «dabei» – sprich: auf der Liste ihrer jeweiligen Partei – zu sein, um dann natürlich auch gewählt zu werden …
Beispiel: Sozialdemokratie. Da wird schon mal von «linker Lust am Untergang» gewarnt, ein Vorwurf, der «abtrünnigen» Parteimitgliedern gilt, die ihrer Partei (der LSAP, um deutlich zu sein) mit ihren Artikeln mehr schaden als nützen würden, wie sich gewisse Protagonisten dieser Partei erst kürzlich echauffierten.
Oder auch – nennen wir das einfach mal den «Titanic-Defaitismus», der auch kritischen und politisch mündigen Bürgern sofort unterstellt wird, wenn diese sich angesichts terminologisch-ideologischer Diskussionen um die aktuelle und um die zukünftige Parteilinie, um nur nicht von sozialistischen, sozialdemokratischen oder doch eher (realpolitisch betrachtet) sozialliberalen Irrungen und Wirrungen zu sprechen, tatsächlich öffentlich kritisch zu äußern wagen.
Wahltaktisch links
Ja, moderne, will heißen knallharte Realo-Sozialisten, die noch eine Chance auf Zukunft sehen, fordern, dass sich die Sozialisten von heute und morgen heutzutage zwar noch wahltaktisch gesehen «links» nennen sollen, sich politisch realistisch betrachtet – will heißen realpolitisch übersetzt – jedoch gefälligst in der Mitte zu tummeln haben, so wie das von gewissen Protagonisten von ihren Mitgliedern und ihrem Wahlvolk von oben herab gefordert wird, im Sinne von: den Ball flach halten, nur nicht anecken! Auf dem Teppich bleiben!
Nur: Das alles hat unweigerlich Konsequenzen, wenn am Wahltag Zahltag sein wird – und das böse Erwachen droht! Ist man sich dessen in der Parteileitung der LSAP denn immer noch nicht bewusst? Sind da etwa einige schon zur Proteus-Persönlichkeit mutiert?
Und damit zum Titel dieses Beitrages, der auf den ersten Blick rätselhaft zu sein scheint. Proteus, der «Alte vom Meer», ist ein früherer Meeresgott der griechischen Mythologie, in Unterordnung zu Poseidon, und gilt als dessen Sohn. Proteus hütet Poseidons Robben und andere von dessen Meeresgeschöpfen. Er hat mehrere Wohnstätten, zu denen unter anderem auch die Inseln Karpathos und Pharos gehören. Proteus besitzt drei markante Kennzeichen: das würdige Greisenalter («der Meeresalte», so Homer in dessen Odyssee), die Gabe prophetischen Wissens (Divination) sowie die sprichwörtlich gewordene Fähigkeit zur spontanen, polymorphen Gestaltverwandlung (Metamorphose).
In Homers Odyssee lebte Proteus als ein weiser, alter und wandlungsfähiger Meeresgott auf der Insel Pharos als Robbenhüter, der jeden Mittag dem Meer entstieg, um seine Robbenherde zu kontrollieren. Er hatte die Gabe der Prophetie, war aber abgeneigt, sein Wissen zu offenbaren. Deshalb war es schwierig, ihm eine Prophezeiung zu entlocken. Er versuchte, den Fragen zu entkommen, indem er verschiedene Gestalten annahm. Das machte ihn zu einem Meister der Verwandlung, der jede beliebige Gestalt annehmen konnte, selbst die des Wassers, des Feuers oder eines wilden Tieres.
Mit der Proteus-Persönlichkeit kommen wir zum heutzutage viel diskutierten Jeremy Rifkin und zu der von ihm propagierten «dritte industriellen Revolution», der in seinem Buch «Access» einen neuen menschlichen Archetypus gefunden zu haben glaubt. Nämlich die im Titel visierte «proteische Persönlichkeit», angelehnt an eben den Gott Proteus der griechischen Mythologie, der spielerisch jede beliebige Gestalt annehmen kann, aber dafür einen existentiellen Preis bezahlen muss: Er kann sich selbst nie finden!
Bitterer Beigeschmack
Von diesem Preis mit bitterem Beigeschmack ist bei Rifkin selbstredend nicht die Rede, eher von der Norm im «neuen Kapitalismus», der in der kommenden digitalen Gesellschaft, dem Fundus der angedrohten «dritten industriellen Revolution», den (verglichen mit allen Vorläufergenerationen) «flexibleren Menschen», die sich ständig an sich verändernde Umwelten, neue Umstände anzupassen haben, und der Zugang (access eben) zu Informationen, Märkten, Beziehungsnetzen und Bühnen hat, die sein Vorgänger nie hatte.
Und dann der Kernsatz seiner Gesellschaftsdiagnose: Kennzeichen der Postmoderne soll die «Verspieltheit» sein, während die Moderne durch Fleiß geprägt war. Ein Teil dieser neuen kulturellen Ordnung ist die Informationstechnologie, ein anderer Teil ist die dominante «Erlebnis- oder Spaßgesellschaft».
Denn alle, so Rifkin, suchen nach Spiel und Vergnügen. Der globalisierte Kapitalismus, der dann digitale Neoliberalimus – um das Zukunftsszenario, das einigen, und auch solchen, die sich pikanterweise immer noch «Sozialisten» nennen, vorzuschweben scheint, einfach mal so zu bezeichnen –, entfaltet sich als Netzwerkgesellschaft, die sich als Verknüpfung von technologischen und ökonomischen Prozessen erweisen soll.
Alles Hirngespinste von Analytikern der Gegenwartsgesellschaft? Die die Frage aufwerfen: «Amüsieren wir uns zu Tode?» Wobei das Wort «amüsieren» mit Vorsicht zu genießen ist …
Und die uns die Konsequenzen der Netzwerkgesellschaft (als Teil, als Instrument des Homo Digitalis) warnend oder – im Gegenteil – als «qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung» vor Augen führen, Konsequenzen, die sich egal wie über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität ausbreiten werden und die die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben, entsprechend transformieren.
Dieser mächtige, neue Kapitalismus, der um die digitale Spaßgesellschaft erweiterte Neoliberalismus, wie der Zeilenschreiber diese Welt zu benennen sich erdreistet, wird unweigerlich und unmittelbar auch in unsere Lebensgestaltung eingreifen – besonders aber in die Arbeitswelt. Dieses Thema wird noch weitergeführt.
Wie Zukunftsforscher uns voraussagen, taucht das Bild vom Spieler in der Tat auf, der einen zentralen, postmodernen Menschentypus repräsentieren würde. Das Merkmal des «postmodernen Erwachsenseins» sei die Bereitschaft, «das Spiel», will heißen das Leben, so rückhaltlos zu akzeptieren wie Kinder. Wird die Proteus-Persönlichkeit des Homo Digitalis im neuen Kapitalismus der digitalen Revolution etwa Standard sein? Alles natürlich purer Zynismus … oder etwa doch bittere Realität? Wir haben eben so ziemlich alles in uns, was wir zu unserem Unglück brauchen …
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