Europawahlen sind, nun ja, nicht unbedingt ein Publikumsmagnet. Die Beteiligung sank seit dem ersten Durchgang 1979 von 62 auf zuletzt knapp 43 Prozent. Am Mittwoch schlug das Europaparlament erste Pflöcke ein, mit dem Ziel, die nächste EU-Wahl in gut einem Jahr attraktiver und bürgernäher zu machen. Ehrgeizige Pläne von Sozialdemokraten, Grünen und Linken für eine Grundsatzreform nach dem Brexit 2019 scheiterten jedoch. Das letzte Wort haben ohnehin die EU-Staats- und Regierungschefs, die sich die Frage bei einem Sondergipfel am 23. Februar erstmals vornehmen. Ein Überblick über eine hitzige Debatte.
Im Gespräch war eine kleine Revolution – worum ging es dabei?
Weil 2019 wegen des Brexits 73 Sitze britischer Abgeordnete frei werden, schlug der Verfassungsausschuss des Europaparlaments eine Grundsatzreform vor – die allerdings am Mittwoch im Plenum keine Mehrheit fand. 27 dieser freien Mandate sollten für sogenannte transnationale Listen genutzt werden. Auch bei der Europawahl hätte es damit Erst- und Zweitstimme gegeben – eine für nationale Kandidaten und eine für europaweite Parteilisten, auf denen auch Bewerber anderer Länder stehen.
Was hätte das bringen sollen?
SPD, Grüne und Linke verbanden große Hoffnungen damit: eine echte europäische Abstimmung über EU-Grenzen hinweg, eine breit angelegte Debatte über europäische Themen, eine Mobilisierung der Europäer für die Wahl und für die EU. Der Politikwissenschaftler Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre hielt solche Erwartungen für überzogen, doch sah auch den Vorschlag als richtigen Schritt für mehr Demokratie. Nach ihrer Niederlage reagierten die Befürworter bitter. Die Grünen-Fraktionschefin Ska Keller sprach von «einem schwarzen Tag für die europäische Demokratie». Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigte sich enttäuscht.
Warum waren nicht alle dafür?
Die Europäische Volkspartei (EVP) – die größte Fraktion im Europaparlament – lehnte die Idee ab und bezeichnete es als «Sieg der Vernunft», dass er durchfiel. «Wir müssen näher an die Bürger heran, statt uns von den Bürgern zu entfernen», sagt Fraktionschef Manfred Weber. Das Ziel Bürgernähe und Demokratie schreibt auch er sich auf die Fahnen, setzt aber auf ein anderes Rezept, das die Mehrheit im Parlament am Mittwoch denn auch mittrug: Die Parteien sollen für die Parlamentswahl 2019 wieder europäische Spitzenkandidaten aufstellen, aus denen dann der nächste EU-Kommissionspräsident ausgewählt wird.
2014 lief es das erste Mal so. Die EVP holte die meisten Sitze im Parlament und setzte ihren Spitzenkandidaten Jean-Claude Juncker tatsächlich als Kommissionspräsidenten durch. «Dieses Konzept ist aus unserer Sicht unumkehrbar», sagt Weber und richtet prompt eine Warnung an die EU-Staats- und Regierungschefs: Die EVP werde 2019 niemanden zum Kommissionschef wählen, der nicht Spitzenkandidat war.
Wieso werden die Spitzenkandidaten so wichtig genommen?
Die Schärfe der Brüsseler Diskussion ist manchmal schwer nachvollziehbar, aber Weber macht deutlich, worum es geht: «Wir stehen vor einem Machtkampf.» Denn nach den EU-Verträgen ist es so: Der Europäische Rat – also die Staats- und Regierungschefs – schlägt den Kandidaten für das mächtige Amt des Kommissionschefs vor und muss das Ergebnis der Europawahl nur «berücksichtigen». Ist der Spitzenkandidat der stärksten Partei nach der Wahl praktisch gesetzt, bindet das dem Rat die Hände. Der Streit wurde 2014 schon einmal ausgefochten, als auch Kanzlerin Angela Merkel den Automatismus infrage stellte und ihren Parteifreund Juncker zappeln ließ. Einige Länder wollen sich das nicht noch einmal aufzwingen lassen.
Und wie groß sind dann die Chancen, dass sich das Parlament durchsetzt?
Ungewiss. Die Entscheidung liegt nicht beim Parlament, sondern beim Europäischen Rat. Beim Sondergipfel am 23. Februar will Ratspräsident Donald Tusk die Meinungen der Staats- und Regierungschefs ausloten. Die Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn haben schon wissen lassen, dass sie kein Interesse haben, das Europaparlament weiter aufzuwerten: Die Chefs im Rat sollen die Entscheidungen treffen, kontrolliert von ihren nationalen Parlamenten. Und auch sie argumentieren mit Bürgernähe: «Wir sollten die Distanz zwischen den europäischen Bürgern und den Institutionen in Brüssel verringern.» Die recht abstrakte Debatte geht also ans Eingemachte: Mehr Macht für die EU oder mehr Kontrolle für die Hauptstädte? Auch hier entscheidet sich, wie es mit Europa weitergeht.
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