Bei der Wahl zum deutschen Bundestag in 2017 traten 33 Parteien an. Neben CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke kandidierten jede Menge von „Freien Wählern“.
Dazu alle Varianten von Linksparteien: Sozialistische Gleichheitspartei; Demokratie durch Volksabstimmung; Bündnis Grundeinkommen; Deutsche Kommunistische Partei; Marxisten-Leninisten. Die Anhänger von Umwelt- und Tierschutz hatten ebenfalls die Qual der Wahl: Ökologisch-Demokratische Partei; Partei für Vegetarier und Veganer; Tierschutzpartei; Allianz für „Menschenrechte, Tier- und Naturschutz“; Partei für „Tierschutz, Elitenförderung und Basisdemokratie“ sowie Gartenpartei.
In der rechten Ecke tummelten sich neben der Alternative für Deutschland noch die Nationaldemokratische Partei; Deutsche Mitte; Bayernpartei; Allianz Deutscher Demokraten. Zusätzlich zur halbwegs etablierten Piratenpartei bewarben sich Demokratie durch Volksabstimmungen; Allianz der Humanisten; Allianz Deutscher Demokraten; Bürgerrechtsbewegung; Demokratie in Bewegung; Partei für Gesundheitsforschung sowie andere Vereine mit begrenztem Bauchladen. Etwa die Hip-Hop-Partei, die Bergpartei, die Grauen. Als Krone der Bedeutungslosigkeit dieser politischen Inflation gab es gar die Partei der Vernunft!
Glücklicherweise scheiterten die meisten an der Fünf-Prozent-Klausel, ab der erst Sitze anfallen. Doch von Wahl zu Wahl steigt die Zahl der Parteien im Bundestag. Das mag als Ausdruck demokratischer Meinungsvielfalt gelten, erschwert stabile Regierungsverhältnisse ungemein. Wie es das Marathon zur Bildung der neuen Bundesregierung illustriert.
Nicht nur in Deutschland, überall in Europa und in vielen Teilen der Welt ist die Parteienlandschaft im Umbruch. Die klassischen Machtblöcke, Linke wie Rechte, zerbröckeln.
Es wird viel spekuliert über den Niedergang der Sozialisten und Sozialdemokraten. Ende der 80er-Jahre waren in der EU praktisch sämtliche Regierungen von Vertretern der sozialistischen Familie angeführt.
Die Sozialisten waren die Nummer eins im Europäischen Parlament. Damals frotzelte Jean-Claude Juncker, der nächste Kongress der christdemokratischen Europäischen Volkspartei könne in einer Telefonkabine stattfinden.
Heute ist die EVP erste Kraft im Europäischen Parlament. Aber nur weil die EVP-Granden keine hohen Ansprüche für eine Mitgliedschaft stellen. Selbst Ultranationalisten wie Ungarns Viktor Orban, die Forza Italia des zwielichtigen Berlusconi und andere nicht gerade lupenreine „Demokraten“ dürfen die Reihen der Christdemokraten auffüllen. Zeitweilig dabei waren die Exit-getriebenen britischen Konservativen und selbst die islamische Partei des Herrn Erdogan.
Mit zunehmender Säkularisierung der Gesellschaft wurden auch die Christdemokraten ausgedünnt. In Frankreich sind seit de Gaulle die Christlichen in den verschiedensten Gruppierungen der Rechten aufgegangen. Progressive Katholiken fanden eine Heimat bei Mitterrand. In Italien implodierte nach dem „Tangentopolis“-Skandal die ewige Regierungspartei Democratia Christiana mitsamt ihren Bündnispartnern. In den Niederlanden und in Belgien sind die Christlichen kein Machtfaktor mehr. Selbst nachdem sie sich in „Humanisten“ umtauften.
Die Liberalen mutierten in einigen Ländern zu extremen Nationalisten. Beispiel Österreich oder Dänemark. Noch schlimmer erwischte es die Kommunisten, welche den Zusammenbruch des „realen Sozialismus“ sowjetischer Prägung nicht überlebten. Sie schrumpften, wie in Luxemburg, zu Sekten.
Soziologischer Umbruch
Der Zusammenbruch der klassischen Parteistrukturen in Europa ist eine Folge der soziologischen Entwicklung. Der Wiederaufbau nach Kriegsende mündete in eine Gesellschaft mit hohem materiellen Komfort. Statt Hunger gab es Überfluss.
Die „weiße Revolution“ der elektrischen Geräte schuf neue Freiräume. Der Siegeszug des Autos führte mit zunehmender Freizeit zu touristischen Völkerwanderungen.
Die rasante Modernisierung der Landwirtschaft, der nicht minder radikale Rückgang der klassischen Arbeiterklasse schaffte eine immer breitere Mittelschicht von eher gut besoldeten Angestellten und Beamten. Der „Klassenkampf“ versandte. Die steigende Zahl der „Besitzbürger“ führte zur „Verschweizerung“ der Mentalitäten: Abgrenzung gegenüber den Fremden, Rückzug in die private Trutzburg, kuscheliges Einigeln.
Die Umweltbewegung verstärkte die Abkehr von der „Modernität“: Gegen Produktionsanlagen oder Infrastruktur in nächster Nachbarschaft. „Not in my backyard“, nicht bei meinem Garten. Selbst oder gerade wenn es sich um Flüchtlingsheime handelt.
Der strukturelle Wandel in der Gesellschaft macht besonders jenen Parteien zu schaffen, welche wie die Sozialisten „Solidarität“ predigen.
Wie kann man für ein solidarisches Verhalten werben bei Mitbürgern, die immer individualistischer und egoistischer werden? Die mit Tätowierungen und Piercings versuchen, ihre „Individualität“ zu beweisen? Bei denen selbstverliebte Selfies den Höhepunkt gesellschaftlicher Kommunikation darstellen? Wo Jugendliche in eigener Klangwelt leben, abgeschottet durch Kopfhörer und fixiert auf dem Smartphone? Nicht umsonst heißt einer der größten Hits der letzten Jahre „Me, Myself and I“.
Politik ade
In den westlichen Demokratien gehen alle klassischen Parteien strukturell zurück. Das gleiche Schicksal erleiden Kirchen, Gewerkschaften, Medien. Die individuelle „Meinungshoheit“ feiert sich auf Facebook, Twitter und Co. Jeder Wutbürger kann gegen das „System“ der per Definition „korrupten Politiker“ und der „Lügenpresse“ wettern.
Immer weniger Wähler bequemen sich zu den Urnen. In den USA blieb über die Hälfte der Wähler der Präsidenten-Wahl fern. Bedingt durch das Wahlsystem wurde Trump von nicht einmal 20% der Wahlberechtigten bestimmt. In Frankreich schritten keine 50% der Bürger zur jüngsten Parlamentswahl. In der Schweiz, Mutterland der direkten Demokratie, nutzen bei den meisten „Votationen“ bestenfalls ein Drittel der Bürger ihr Recht zur Mitbestimmung.
Deshalb können neue Parteien sich so leicht mit simplistischen Themen etablieren. „Fremdenfeindlichkeit“, „Nationalismus“, „Hurra-Patriotismus“ sind dürftige, aber wirkungsvolle Bauklötze einer immer neu verwertbaren „Playmobil“-Architektur für Möchtegern-Politiker.
Quer durch Europa mehren sich Parteien, die mit egoistischen und neidischen Themen Wähler mobilisieren. Das geht von den „wahren Finnen“ über die „dänische Volkspartei“, den „Vlaams Belang“, den „Front national“ bis zur „Lega Nord“ oder den so falsch benannten „Freiheitlichen“ in Österreich. Kataloniens Separatisten sind linke wie rechte Populisten, welche den Reichtum ihrer Provinz nicht mit den „faulen“ Spaniern teilen wollen. Hierzulande etablierte sich die ADR mit einer Neid-Kampagne gegenüber den Pensionen im öffentlichen Dienst. Die nächsten Wahlen werden entschieden über „Lëtzebuerg de Lëtzebuerger“ gegen Flüchtlinge und Grenzgänger.
In vielen Ländern etablieren sich Bewegungen mit Hang zum Autoritarismus. Trump in den USA, Erdogan in der Türkei, Putin in Russland sind Vertreter einer demokratie-feindlichen Politik der starken Hand. Die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland leben von der Kontestierung der Etablierten. Obwohl Tsipras einsehen musste, dass selbst Revolutionen bezahlbar sein müssen.
Unsere Welt ist komplizierter geworden. Die gegenseitigen Abhängigkeiten wachsen ständig. Kein Mensch kann sich globalen Problemen wie dem konstanten Anwuchs der Weltbevölkerung, dem damit zusammenhängenden Verbrauch von Ressourcen und deren Auswirkungen auf Biodiversität und Umwelt entziehen. Bürger- und Religionskriege, Finanzkrisen, technologische Umbrüche lassen niemanden unberührt, selbst nicht hinter mit Stacheldraht bewehrten Grenzen.
Auch wenn die Versuchung zu angeblich „einfachen Lösungen“ wie „Ausländer raus“, „raus aus Europa“ oder „raus aus dem Wirtschaftswachstum“ größer wird, kann es nirgendwo eine „glückliche Insel“ in sonst brausenden Fluten geben. Die Welt benötigt weiterhin Politiker und Parteien, die sich den globalen Problemen der realen Welt stellen. Wie die Sozialisten.
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