Vier Monate nach der Bundestagswahl hat die SPD den Weg zu Verhandlungen mit der Union über eine neue große Koalition frei gemacht. Nach einer konfrontativen und emotionsgeladenen Debatte stimmte auf dem Parteitag in Bonn eine Mehrheit von 362 der 642 Delegierten und Vorstandsmitglieder dafür. 279 waren dagegen, einer enthielt sich. Die Koalitionsverhandlungen können damit in den nächsten Tagen beginnen und im besten Fall bereits im Februar abgeschlossen werden. Danach muss aber noch eine hohe Hürde überwunden werden: Die mehr als 440 000 SPD-Mitglieder stimmen über den Koalitionsvertrag ab und haben damit das letzte Wort.
Parteichef Schulz hatte in einer kämpferischen Rede für eine große Koalition geworben. Kurz vor der Abstimmung trat er nochmals ans Rednerpult und sprach von einem «Schlüsselmoment» in der Geschichte der SPD. «Ich glaube, dass die Republik in diesem Moment auf uns schaut», sagte er. «Ja, man muss nicht um jeden Preis regieren, das ist richtig. Aber man darf auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.»
«Einmal Zwerg, um künftig Riesen zu sein»
Sein schärfster Widersacher Kevin Kühnert hatte an die Genossen appelliert, trotz weitreichender Folgen nicht vor einem Nein zurückzuschrecken. Der Leitspruch des Juso-Chefs für die Abstimmung: «Heute einmal ein Zwerg sein, um künftig wieder Riesen sein zu können.» Damit spielte er auf eine Aussage des CSU-Landesgruppenchefs Alexander Dobrindt an, der den Jusos einen «Zwergenaufstand» vorgeworfen hatte.
In der mehr als vierstündigen Debatte sprach sich eine knappe Mehrheit der etwa 50 Redner für eine große Koalition aus. Die Befürworter kamen überwiegend aus der Parteiführung. Fast alle prominenten Sozialdemokraten sind für eine große Koalition. Die leidenschaftlichste Rede hielt SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles, Die Bürger würden der SPD einen Vogel zeigen, wenn sie sich trotz guter Sondierungsergebnisse für eine Neuwahl entscheide, sagte sie. In den Koalitionsverhandlungen könne noch mehr für die SPD herausgeholt werden. «Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite.»
«Ohne Angst, ohne Scheu»
Nahles bekam für ihre kurze Ansprache deutlich mehr Beifall als Schulz, der eine Stunde redete. «Wir entscheiden heute letztlich auch darüber, welchen Weg unser Land und Europa gehen», sagte der SPD-Vorsitzende. Die Partei müsse «ohne Angst, ohne Scheu» Verantwortung übernehmen. «Ich bin davon überzeugt, dass der mutige Weg der richtige ist.»
Für den Fall von formellen Gesprächen mit der Union versprach Schulz weitere Verhandlungserfolge der SPD. Unter anderem in der Gesundheitspolitik seien Ergänzungen des Sondierungspapiers nötig. «Wir werden konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin verlangen – und wir werden sie durchsetzen», sagte er. Gemeint ist die unterschiedliche Behandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten. Zudem müssten befristete Arbeitsverhältnisse künftig die Ausnahme sein. Als dritten Punkt versprach Schulz eine wirksame Härtefallregel für den Familiennachzug von Flüchtlingen.
Zündstoff für die Verhandlungen
Die Parteispitze hatte diese drei Forderungen in ihren Antrag für die Parteitagsabstimmung eingebaut. Damit gibt es reichlich Zündstoff für die Verhandlungen mit der Union. Denn CDU und CSU sind strikt gegen grundsätzliche Änderungen der 28-seitigen Sondierungsvereinbarung, auf die sich beide Seiten am 12. Januar verständigt hatten.
Schon jetzt dauert die Regierungsbildung so lange wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Erst scheiterten im November die wochenlangen Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition an der FDP. Zu den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD kam es erst nach einer Kehrtwende von Schulz, der sich ursprünglich auf die Oppositionsrolle festgelegt hatte. Hätte die SPD mit Nein gestimmt wären nur eine Minderheitsregierung, eine Rückkehr zu den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition oder eine Neuwahl möglich gewesen.
Schulz wäre zurückgetreten
Mit dem Votum verhinderten die Delegierten auch den Sturz der SPD in eine tiefe Krise. Für den Fall eines Neins war mit dem Rücktritt von Schulz gerechnet worden. Vor dem Parteitag war die Partei in den Umfragen bis auf 18 Prozent abgesackt. Schulz nannte als zentrales Projekt einer großen Koalition einen «Aufbruch in der Bildungspolitik» und hob erneut die Reform der Europäischen Union hervor. Er betonte, dass die SPD trotz ihres schlechten Wahlergebnisses von gut 20 Prozent eine Regierung auf Augenhöhe mit der Union anstrebe. «Die SPD muss und wird sichtbar, hörbar und erkennbar sein.» Sie «muss eine SPD-Regierung sein».
Kühnert sprach von einer «Vertrauenskrise» in der Partei und betonte, dass der Parteitagsbeschluss für oder gegen ein Bündnis mit der Union so oder so schmerzhafte Nachwirkungen haben werde. «Es wird wehtun», sagte er. «Wir werden Menschen vor den Kopf stoßen.» Das Ja der SPD dürfte auch in der Europäischen Union für ein Aufatmen sorgen. Brüssel und wichtige Partnerländer wie Frankreich warten darauf, dass eine neue deutsche Regierung EU-Reformen mit vorantreibt. Rechnet man den Wahlkampf dazu, agiert die Bundesregierung seit einem Jahr nur noch mit angezogener Handbremse. Seit drei Monaten ist sie nur noch geschäftsführend im Amt.
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