Von Robert Goebbels
2018 ist 100 Jahre nach Weltkrieg I. Die Geschichte teilt zwar nicht die Vorliebe der Menschen für runde Zahlen. Dennoch ist ein Rückblick notwendig.
Der «Große Krieg» setzte der weltweiten Vorherrschaft der Europäer ein definitives Ende. Das britische Imperium und das französische Kolonialreich gingen zwar theoretisch gestärkt aus den Völkerschlachten hervor. Aber nur kurzfristig. Eigentliche Sieger waren die Vereinigten Staaten von Amerika, deren wirtschaftliche und somit politische Dominanz sich im langen 20. Jahrhundert unaufhaltsam steigerte. Obwohl sich die Amerikaner von der neuen politischen Weltordnung – dem Völkerbund – abkapselten.
Ohne das Mitwirken der immer dominanteren Amerikaner scheiterte der aus dem Friedensvertrag von Versailles hervorgegangene Versuch, künftig die Konflikte am Genfer Verhandlungstisch zu lösen. Zumal die Vertragswerke von Versailles eigentlich die Zündsätze für alle nachfolgenden Konflikte legten. Nicht nur für Weltkrieg II, sondern auch für «moderne» Kriege wie jene in Irak und Syrien.
Neuer Anlauf, neue Demontage
Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg gab es mit der UNO einen erneuten Anlauf zur Schaffung einer internationalen Rechtsordnung. Die Vereinten Nationen wurden unentbehrlich. Obwohl es zu viel bürokratischen Wildwuchs im Netzwerk der UN-Agenturen gibt. Was es nunmehr einem Trump ermöglicht, die internationale Rechtsordnung Stein um Stein zu demontieren.
Die USA entsagen sich dem Pariser Klimaabkommen. Sie boykottieren die Unesco, gefolgt von Israel. Nunmehr hat Trump eine starke Kürzung des UN-Haushaltes durchgesetzt. Ohne zu garantieren, dass die reichen USA weiterhin die vertraglich vorgesehenen 21% der Kosten der in New York beheimateten Organisation tragen werden. Immerhin bleibt das meiste Geld dort.
Kleine Trumps
In anderen internationalen Organisationen geht Trump subtiler vor. In der Handelsorganisation WTO blockiert Washington die Ersetzung der aus den Schlichtungsgremien ausscheidenden Richter. Es kommen somit keine Schiedssprüche mehr bei Dumping-Klagen und anderen Verstößen gegen den von Trump ungeliebten freien Handel. Auch in Europa finden sich viele rechte wie linke Gegner des Freihandels. Die unehrlich geführten Debatten über TTIP, CETA und Co. zeigten, dass es in der export-abhängigen Europäischen Union viele kleine Trumps gibt, welche vorgaukeln, ein überschaubarer nationalistischer, regionalistischer oder gar lokaler Rahmen könne eine «heile Welt» schaffen.
Die Hälfte der globalen Wertschöpfung entsteht durch den internationalen Handel mit Waren und Dienstleistungen. Noch sind die Europäer – gemeinsam – führend. Wie die EU-Kommission dokumentiert, leistet jede Milliarde Euro an Ausfuhren einen Beitrag zur Sicherung von zirka 14.000 Arbeitsplätzen. 80% der europäischen Exporteure sind kleine und mittlere Unternehmen. Nicht alles Großkapitalisten.
Dennoch verfallen gerade die vormals dominierenden Industrienationen zunehmend den Sirenengesängen von Nationalismus und Protektionismus.
Immer öfters spülen Wahlen in Europa ultra-nationalistische Regime an die Macht. In Polen, in Ungarn, in anderen ehemaligen Volksrepubliken machen sich autoritäre Regime breit. Solche existierten in den gleichen Staaten bereits am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. In Österreich ist der derzeitige «Kurz»-Schluss zwischen rechts und sehr rechts beängstigend, selbst wenn kein «Anschluss» droht. Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Probleme bleiben die gleichen.
Lösungssuche verhindert
Erdogan in der Türkei, Putin in Russland und Trump in den USA runden die vorherrschende «fatigue démocratique» ab, welche alle pessimistischen Szenarien für die Zukunft erlaubt. Weltkrieg I erfolgte durch eine unglückselige Verkettung nationalistischer Großmannssucht, den Rüstungswettlauf der Großmächte sowie Fehlurteile der damaligen schwachen bis unbedarften Führungskräfte (der deutsche Kaiser, der Zar, der Altkaiser der zerbröckelnden Donau-Monarchie, der französische Präsident Poincaré).
Weltkrieg II entstand als Revanche des deutschen Nationalismus gegenüber saftlosen Politikern in Paris und London, die sich scheibchenweise von Hitler über den Tisch ziehen ließen, bis ein Waffengang unvermeidlich wurde.
Kommt der Dritte Weltkrieg?
Ein Weltkrieg III bleibt ungewiss. Globale Umbrüche erfolgen unangekündigt. Eine Provokation durch eine irgendwo in Asien einschlagende nordkoreanische Rakete, eine Eskalation um Jerusalem mit Schlagabtausch zwischen Israel und dem Iran vor dem Hintergrund eines Machtkampfes zwischen Schiiten und Sunniten könnten die Ingredienzen für einen globalen Molotowcocktail hergeben.
Beunruhigend sind jedenfalls der allenthalben zunehmende Nationalismus, mit seinem Korrelat, der Fremdenfeindlichkeit. Erschwerend wirkt der zunehmende Rüstungswettlauf. Selbst «the roaring mouse» Luxemburg will seine Militärausgaben von 0,4 auf 0,6% des BIP steigern.
Vor allem geben die führenden Köpfe der wichtigsten Staaten des Westens, angefangen mit Trump, May und Merkel, nicht gerade Vorzeigehelden für Staatsführung ab.
In «Diplomacy» schreibt Henry Kissinger: «L’ordre qui se dessine aujourd’hui devra être édifié par des hommes d’Etat issus de cultures infiniment différentes. Ils dirigent d’énormes bureaucraties d’une telle complexité que ces mêmes hommes d’Etat usent souvent plus d’énergie à servir la machine administrative qu’à définir un objectif.» Die Welt verändert sich rapide und wird mit den Technologie-Sprüngen immer komplexer. Kaum jemand hat noch einen globalen Durchblick. Das Modewort «Nachhaltigkeit» wird bis zur Inhaltsleere dekliniert. Bis 2030 soll eine «heile Welt» geschaffen werden, mit 17 «nachhaltigen Entwicklungszielen» und nicht weniger als 169 Unterzielen und 229 Indikatoren. Niemand ist in der Lage, diese 169 Unterziele aufzuzählen, geschweige denn den Weg dorthin konkret zu definieren.
Europäer als Moralapostel
Doch gerade die Europäer, die einen immer kleineren Teil der Weltbevölkerung abgeben, hüllen sich in die Gewänder der Moralin-Apostel. Währenddessen verfolgt Trump seinen nationalistischen Traum vom «making America great again». Er kann sich zumindest auf den größten Militärhaushalt der Welt stützen sowie auf Weltfirmen, welche die dominierenden Technologien der Neuen Zeit hervorbringen.
Doch als Nachbeben des Ersten Weltkrieges, das ein Ende der europäischen Vorherrschaft einleitete, entstanden neue «global champions»: Japaner, Brasilianer, Inder, Koreaner und andere asiatische «Tiger»-Staaten, allen voran die Volksrepublik China.
Während in anderen Teilen der Welt über den Ausgang der nächsten Wahlen spekuliert oder während langer Monate an wackligen Regierungs-Koalitionen gebastelt wird, bestimmt in Peking die allein seligmachende KP den chinesischen Weg der «sozialistischen Marktwirtschaft». Die den Großteil der Armut in China beseitigte und die breiteste Mittelschicht der Welt schuf.
Mit Moralin gegen Veränderungen?
Im Gegenzug zu den Amerikanern gibt sich das China von Präsident Xi Jinping keine zivilisatorische Mission, hat es keine Religion zu exportieren, hütet es sich, den Weltgendarmen zu spielen. Selbst wenn es nunmehr offiziell heißt: «Building a better world for all is China’s mission.» Doch Präsident Xi setzt dabei vornehmlich auf «soft power»: «Ein großes Land muss wie der Lauf eines Stroms sein, der viele Nebenflüsse anzieht!»
Keine «splendid isolation» wie das Trump-Amerika, keine Selbstzweifel wie die Europäer, sondern eine klare Strategie für internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Immerhin ist China in einem Vierteljahrhundert zum wichtigsten Zulieferanten für den Rest der Welt herangewachsen, zum größten Produzenten für Zement, Stahl und Autos. China ist größter Energieverbraucher, gleichzeitig der bedeutendste Produzent von Windmühlen, Solaranlagen und Kernkraftwerken. Zudem produziert China 90% aller «seltenen Erden», jene unverzichtbaren Bestandteile der modernen Kommunikations-Technologie.
Veränderungen in der Geopolitik
So verändert sich die geopolitische Gewichtung. Von Peking aus gesehen ist Europa ein kleiner Wurmfortsatz in der oberen linken Ecke des zentralen Kontinents. Napoleon soll gesagt haben, jeder Staat mache die Politik seiner Geografe. Europa ist kleiner geworden. Bleibt dennoch die reichste, am besten strukturierte politische Einheit der Welt.
Nirgendwo sonst sind die Menschenrechte so gut garantiert und ist das Sozialnetz so dicht gespannt. Das erklärt auch die Attraktivität Europas für Millionen von Krieg, Hunger und Armut bedrohte Menschen. Anstatt dies als Bedrohung anzusehen, wären die Europäer gut beraten, illegale Immigration durch eine großzügige legale Aufnahme- und Integrations-Kultur zu ersetzen. «L’intelligence est la meilleure ressource des pauvres», schreibt Eric Orsenna.
* Der Autor ist ein ehemaliger Wirtschaftsminister und Europadeputierter (LSAP).
Es ist gewiss keine neue Erkenntnis, aber eine, die nach wie vor gültig ist: Sog. Rechtspopulisten und Nationalisten hätten keine Chancen, wenn die EU-Mitgliedsvölker mit der bisherigen Politik ihrer Regierungen zufrieden wären und auch die EU als etwas Positives in ihrem eigenen Leben empfinden würden und nicht nur als eine Institution, welche sinnleere Vorschriften ausspuckt.
Und statt die Völker und deren oft lauthals geäusserten Wünsche ernst zu nehmen, werden sie von vielen Politikern als lästiges Übel empfunden, dem man die eigenen Wertvorstellungen mit mehr oder weniger Gewalt aufpfropfen möchte, um weiterhin die eigenen Pläne verwirklichen zu können.