In Frankreich werden seine Vorhaben als deutsche Sparpolitik kritisiert, in Deutschland wirft man ihm mangelnde Budgetdisziplin vor: Im Tageblatt-Interview geht EU-Wirtschafts-
und Währungskommissar Pierre Moscovici auf seine Reformvorhaben für die Eurozone und seine Kritiker ein.
Tageblatt: Ihr neues Paket zur Restrukturierung der Eurozone basiert nur auf Vorschlägen. Haben Sie einen Plan B, falls Plan A scheitert?
Pierre Moscovici: An erster Stelle muss eine Vertiefung der Europäischen Union stattfinden. Wir müssen unsere Integrations- und Vertiefungsbestrebungen intensivieren. Ich mag keinen Plan B, bevor Plan A nicht wirklich vollständig getestet wurde. Deswegen gehört alles, das wir jetzt vorstellen und vorbereiten, zu Plan A. Dieser kann und muss natürlich kritisch diskutiert werden.
Ihre Reformvorschläge sollen die EU vor der nächsten Krise schützen. Wie stark ist die Eurozone denn gefährdet?
Es stellt sich immer wieder die Frage nach dem „Überleben“ der Eurozone. Ich kann Ihnen Folgendes sagen: Die Wirtschaft funktioniert in Zyklen. Wir befinden uns in einem viel besseren Zyklus als noch vor einigen Jahren. Das Wirtschaftswachstum erlebt einen leichten Aufschwung, die Defizite wurden gesenkt. Das hat bewiesen, dass der Euro ein starker Schutz für die EU-Bürger ist. Außerdem liegt den Europäern viel am Euro.
Der Euro stand aber die letzten Jahre stark unter Beschuss.
Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors brachte es seinerzeit gut auf den Punkt: „L’euro protège mais ne dynamise pas.“ Europa ist demnach ein Schutz für die Menschen – besonders in Krisenzeiten. Deswegen müssen wir die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (auch: „Economic and Monetary Union“, EMU) erfolgreich fertig aufbauen.
Wie ist Ihr neues Paket zur Reform der Eurozone konkret aufgebaut?
Das neue Paket dreht sich um drei wichtige Prinzipien beziehungsweise Schwerpunkte. Erstens die Einheit der Eurozone, die automatisch für die Zukunft Europas steht. Zweitens Konvergenzen, die sich in Europa ergeben. Drittens die Frage der Demokratie. Der Euro muss auch Teil der demokratischen Debatte werden.
Sie wollen einen Europäischen Währungsfonds (EWF) schaffen. Soll er den Internationalen Währungsfonds (IWF) ersetzen?
Es geht nicht darum, den IWF durch die Einführung des EWF zu ersetzen. Wir respektieren den IWF komplett. Wir respektieren ebenfalls, wie sich der IWF während der griechischen Krise verhalten hat.
Der IWF stand aber wegen seiner Griechenland-Austeritätspolitik heftig in der Kritik.
Sie müssen Folgendes berücksichtigen: Der IWF beurteilt sein Verhalten im europäischen Kontext oft als Derogation seiner eigenen Standards. Deswegen müssen wir ein eigenes Instrument aufbauen, das im Fall einer neuen Krise in der Eurozone zum Einsatz kommen kann. Wir haben ja bereits den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), ein sehr wichtiges Instrument. Er soll in ein paar Jahren in den EWF umgewandelt werden.
Welche Rolle soll der EWF in der EU spielen?
Der EWF soll weitgehend für das Krisenmanagement zuständig sein, falls es wieder zu einer Bankenkrise kommt oder ein kriselnder Staat wieder ein Programm der Institutionen in Anspruch nehmen muss. Der EWF würde auf der Architektur des ESM fußen. Er muss aber demokratisch kontrolliert werden, weil er bislang nur intergouvernemental ausgelegt ist. Deswegen haben wir vorgeschlagen, die EU-Institutionen in den Rahmenplan einzubauen.
Wieso schnallen Sie den Gürtel enger, wo sich Europa wirtschaftlich doch gerade erst leicht erholt hat?
Wir müssen immer, wenn sich ein Aufschwung zeigt, die Antwort auf die nächste Krise vorbereiten. Ich glaube aber auch, dass der Aufschwung ein Moment ist, um uns in der Eurozone strukturell zu verbessern. Allerdings ist das Zeitfenster nicht groß und unsere Chance deswegen nur für kurze Zeit gegeben. Bis Sommer/Herbst 2018 muss das Ganze auf den Beinen stehen. Denn dann geht bereits der Wahlkampf für die Europawahlen 2019 los und es wird noch mehr Zeit verstreichen, bis Reformen umgesetzt werden.
Sie wollen einen europäischen Wirtschafts- und Finanzminister. Was stellen Sie sich vor?
Was die Idee des europäischen Wirtschafts- und Finanzministers betrifft, muss man seine Verantwortungen diskutieren. Es ist eine Idee, die ich seit sehr langem verteidige. Ich habe das bereits in meiner damaligen Funktion als Frankreichs Wirtschaftsminister im Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (Ecofin) getan.
Weshalb?
Ich bin der Meinung, dass das Amt des europäischen Wirtschafts- und Finanzministers die einzige Möglichkeit ist, damit eine Kontrolle durch das Europaparlament stattfinden kann. Je stärker das System in die europäischen Institutionen eingebunden ist, desto stärker würde die Ausübung der Funktionen des europäischen Wirtschafts- und Finanzministers demokratisch kontrolliert. Wie lange das Ganze dauern wird, ist aber bislang schwer einzuschätzen.
Klingt nach Kritik am Eurogruppenchef? Jeroen Dijsselbloem wurde oft für seinen Stil kritisiert und das Amt an sich ebenfalls.
Mein Freund und ehemaliger Kollege Jeroen Dijsselbloem hat sich bislang noch nicht sehr viel vor dem Europaparlament (EP) gezeigt. Ich glaube, wenn ich mich nicht irre, ging er zwei oder drei Mal ins EP. Das ist zu wenig. Wir müssen diese Rechenschaft der Eurogruppe beziehungsweise der Finanzminister gegenüber dem EP entwickeln. Es braucht auch mehr Transparenz. Jeroen hat vieles auf den Weg gebracht. Aber es gibt noch viel mehr zu entwickeln. Parlamentarische Kontrolle und Transparenz sind eng miteinander verzahnt. Wenn es parlamentarische Kontrolle gibt, ist es schwer, keine Transparenz zu haben.
Der europäische Wirtschafts- und Finanzminister erinnert stark an einen „Super-Minister“.
Ich rede nie von einem „Super-Minister“. Ich vergleiche das Amt dieses Ministers mit jenem der EU-Außenbeauftragten. Federica Mogherini ist Hohe Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsidentin der EU-Kommission. Die Tatsache, dass es eine strenge Figur in der europäischen Außenpolitik gibt, bedeutet nicht, dass die Außenminister in der EU verschwunden sind. Frau Mogherini ist keine Bedrohung für die Chefdiplomaten in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und so weiter. Der Wirtschafts- und Finanzminister wäre demnach ein Minister mit einer überparteilichen Rolle.
Der neue europäische Wirtschafts- und Finanzminister würde aber den Eurogruppenchef überflüssig machen.
Stellen wir uns vor, dass der Vorschlag gestimmt und 2019 ein EU-Kommissionspräsident gewählt wird, der diese Reformen umsetzen will. Dann stellt sich tatsächlich die Frage, was mit dem neuen Eurogruppenchef Mario Centeno passiert. Wir wissen es nicht. Woher soll ich wissen, wer Portugal in zwei Jahren regiert und wer der nächste portugiesische Premierminister sein wird? Wen wird er für welchen Posten nominieren? Alles ist möglich. Ich glaube, dass es noch ein weiter Weg ist. Mario Centeno ist für zweieinhalb Jahre gewählt worden. Er hat meine volle Unterstützung, wir teilen viele Ansichten und sind enge Freunde. Es gibt ein enges Zusammenspiel zwischen dem EU-Wirtschafts- sowie Währungskommissar und dem Eurogruppenchef. Deshalb haben wir mit Mario Centeno vereinbart, uns noch vor Ende dieses Jahres zu treffen.
Ihnen wird vorgeworfen, dass Ihre Reform der Eurozone einen sehr deutschen Stempel hat und noch mehr Austeritätspolitik bedeutet.
Ich glaube, dass das eine Interpretationsweise ist, die immer mit Fehlern enden wird. Die Tatsache, dass bereits davon gesprochen wurde, dass das neue Paket asymmetrisch zustande gekommen sei, bevor man überhaupt erst seinen Inhalt kennt, zeigt, dass viel darauf gewartet wurde. Es bestand also Interesse. Ich glaube, dass wir die goldene Mitte getroffen haben.
Inwiefern?
Wenn ich Jean Quatremer von Libération in Paris lese, habe ich das Gefühl, dass wir ein Super-Austeritätsbudget verfolgen. Wir stünden als EU-Kommission auf der Rechten mit der CDU. Das ist für mich persönlich eine Neuigkeit (lacht). Und wenn ich verschiedene Zeitungen in Deutschland lese, habe ich das Gefühl, dass es sich eher um ein „paquet de laxisme“ handelt, das den Stabilitätsmechanismus zerstören wird. Nein, die Wahrheit ist eine andere. Sie hat ihre eigene Logik. Wenn es auf diese Weise zu einem Konsens kommt: umso besser! Für uns zählen lediglich die Prinzipien Einheit, Konvergenz und Demokratie.
Die Deutschen haben sich also nicht durchgesetzt?
Wenn ich jetzt konkret an die Vergemeinschaftung von verschiedenen europäischen Fragen denke, kann ich Folgendes sagen: Das Gefühl, dass es nur die deutschen Kollegen wären, die wollen, dass der ESM in die europäischen Institutionen integriert wird, trügt. Das ist keine deutsche Vision. Die Idee eines europäischen Finanz- und Währungsministers ist auch keine deutsche Vision. Die Existenz eines Eurozonen-Parlaments, das Teil der Institutionen ist, entspricht keiner deutschen Vision. Man darf nicht so denken. Die Arbeit der EU-Kommission besteht nicht darin, dem einen oder dem anderen Freude zu bereiten. Es geht darum, ein Paket aufzubauen, das sich auf bestimmte Prinzipien stützt.
Sie haben aber bei der Vorstellung des Pakets deutlich gesagt, dass es keine Transferunion geben wird.
Wir wissen, dass verschiedene Vorschläge, wenn sie gemacht werden, auf völlige Opposition stoßen. Man beachtet solche roten Linien. Würden wir eine Transferunion vorschlagen, wäre das neue Paket bereits tot, bevor es überhaupt losgehen kann. Das bringt überhaupt nichts. Außerdem muss man sich darüber einigen, was eine Transferunion überhaupt ist. Es gibt bereits die europäische Solidarität. Beim neuen Paket kommt die Konvergenz hinzu. Wenn es Bedürfnisse gibt, muss die Politik der europäischen Solidarität greifen. Ich betone, dass wir nicht ignoriert haben, was sich in Paris oder Berlin getan hat. Wir sind nicht weltfremd (lacht).
Ihre Politik der Krisenprävention basiert aber nicht auf einer keynesianischen, kontrazyklischen Ausgabenpolitik, sondern auf einer doch sehr deutschen Auslegung.
Die Dinge sind nicht so einfach. Ein pro-französisches Paket, das keynesianisch wäre, ist leicht paradox. Außerdem existieren politische Strömungen, die glücklicherweise über die Nationalität hinausgehen. Das neue Paket ist weder pro-deutsch noch pro-französisch. Es ist pro-europäisch und pro Euro.
Sie können aber nicht abstreiten, dass die strenge Haushaltsdisziplin immer noch Teil Ihrer Reform ist und auf Drängen Deutschlands vorangetrieben wurde.
Was den „respect budgétaire“ angeht, ist das wirklich eine Frage, die hart diskutiert wird. Wir wissen, dass es bei dieser Frage mehrere Thesen gibt. Es gibt jene, die sich ein Budget vorstellen, das spezifisch auf die Eurozone zugeschnitten ist und diese Form von Budgetpolitik in den europäischen Rahmen integrieren wollen. Es gibt jene, die sich insgesamt ein größeres Budget für Europa vorstellen usw. Wir müssen auf jeden Fall ein Instrument ins Leben rufen, das asymmetrischen Schocks standhält. Deswegen kann man in diesem Fall nicht einfach mit Schlagwörtern wie „keynesianische Politik“ bestimmte Vorstellungen einfach mit übernehmen.
Übernimmt die EU-Kommission Ihren Plänen zufolge auch in Zukunft noch die Budgetaufsicht?
Die Budgetaufsicht liegt bei der EU-Kommission. Das sehen die Verträge so vor. Dafür werde ich auch immer kämpfen. Deswegen muss man sich vor jenen „Gelüsten“ hüten, die etwas an dieser Situation verändern wollen.
Gerade Italien wurde zuletzt von der EU-Kommission wegen seiner hohen Staatsverschuldung gerügt. Befürchten Sie dadurch nicht noch mehr Euroskepsis?
Die Position vieler Italiener hat sich verändert. Mittlerweile ist niemand mehr wirklich gegen den Euro. Die Eurozone ist auch für Italien wichtig. Man sieht insgesamt in Europa, dass jene, die sich gegen den Euro gestellt haben, zurzeit große Schwierigkeiten haben. Ich denke nur an Marine Le Pen, die bei der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen wegen des Themas Euro eine herbe Schlappe einstecken musste. Die Debatte zeigte, wie viele Franzosen im Gegensatz zu Frau Le Pen für den Euro sind.
Sie sorgen sich also nicht um Italiens Euroskeptiker?
Ich mache mir in keiner Weise Sorgen wegen Italien, das ein EU- sowie Euro-Gründungsmitgliedstaat und im Herzen pro-europäisch ist. Am Ende entscheidet ohnehin die Demokratie darüber, wer das Rennen in Italien machen wird.
* Das Interview wurde gemeinsam mit Journalisten von Die Zeit, ORF, Le Soir, El País, La Stampa und L’Obs durchgeführt.
Zur Person
Wie so ziemlich jeder hochkarätige französische Politiker ist auch der Sozialist Pierre Moscovici (60) ein „énarque“: Das Mitglied der „Parti socialiste“ (PS) studierte – wie Frankreichs ehemaliger Präsident und Parteikollege François Hollande – an der Elitehochschule ENA. Moscovici hat nicht nur einen Master in Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft, er absolvierte auch ein postgraduales Studium in Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Er diente Hollande als Wahlkampfleiter, der es ihm dankte, indem er ihn 2012 zum Wirtschafts- und Finanzminister ernannte. Er unterstützte Hollande zudem im Streit mit der deutschen Bundeskanzlerin in der Debatte um den Fiskalpakt. Moscovici hatte das Amt bis 2014 inne, bevor er EU-Wirtschafts- und Währungskommissar wurde.
Im Jahr 2009 schrieb und publizierte er das Essay „Mission impossible? Comment la gauche peut battre Sarkozy en 2012“. 2011 legte er mit „Défaite interdite. Plaidoyer pour une gauche au rendez-vous de l’histoire“ nach. Moscovici war von 1994 bis 1997 und von 2004 bis 2007 Mitglied sowie Vizepräsident des Europaparlaments. In seiner Freizeit spielt er Schach und fährt Ski. Der französische EU-Kommissar stammt aus einer jüdischen Familie linker Intellektuelle. Sein Vater ist der in Rumänien geborene Sozialpsychologe Serge Moscovici (1925-2014), der mit der Kommunistischen Partei Rumäniens sympathisierte und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich floh. Moscovicis Mutter ist die polnische Psychoanalytikerin Marie Bromberg (1932-2015). Sein Privatleben gelangte zuletzt vor allem wegen seiner jüngeren Lebensgefährtinnen an die Öffentlichkeit.
Es wird/wurde ein riesiger Apparat (ESM/EWF) aufgebaut, um die Verschuldungsprobleme der Euro-Staaten zu verwalten, nicht jedoch um sie definitiv zu lösen! Problemverwaltung statt Problemlösung! Von echtem Schuldenabbau sind wir weit entfernt!