Japanischen Wissenschaftlern ist es gelungen, die Gedanken von Probanden zu lesen. Sie wollen Menschen mit Sprachbehinderung helfen und nutzen dazu künstliche Intelligenz. Diese soll die Besonderheiten der Betroffenen lernen.
Von unserer Korrespondentin Susanne Steffen, Tokio
Die Gedankenpolizei aus George Orwells Verkaufsschlager «1984» könnte bald Realität werden. Zumindest theoretisch. Mit erstaunlicher Treffsicherheit ist es einem Team der Toyohashi-Universität gelungen, die Gedanken seiner Probanden zu lesen. Doch anders als in dem Science-Fiction-Roman aus dem Jahr 1949 hoffen die Forscher, dass diese Erkenntnisse sprachbehinderten Menschen neue Kommunikationswege eröffnen werden.
Hirnregionen sind für bestimmte Silben zuständig
Mit 64 Elektroden haben der IT-Professor Tsuneo Nitta und sein Team ihre Probanden verkabelt, um ihre Hirnströme zu messen, während sie die Zahlen von «Null» bis «Neun» aufsagten. Bereits 0,2 Sekunden bevor der Proband eine Zahl artikulierte, wussten die Forscher, welche Zahl der Proband als nächstes nennen würde. Denn sie hatten herausgefunden, dass die spezifische Hirnregion, die bei der Artikulation einer Silbe aktiviert wird, bereits kurz bevor der Proband zu sprechen beginnt aktiv ist. Jede Silbe hat demnach ihre eigene Hirnregion, heißt es in einer Veröffentlichung der Universität.
Allerdings variiere das Hirnstrommuster von Person zu Person, was die Entwicklung praktischer Anwendungen möglicherweise erschweren werde, so die Forscher weiter. Dennoch konnten die Forscher die Gedanken ihrer Probanden mit 90-prozentiger Treffsicherheit erkennen, bevor sie sie laut aussprachen.
Prinzipiell funktionierte dies auch, wenn die Probanden die Zahlen lediglich dachten und nicht artikulierten. Allerdings seien die Hirnstromsignale dann sehr schwach gewesen, was die Dekodierung erheblich erschwert habe.
«Wir wollen Geräte entwickeln, die Menschen mit Sprachschwierigkeiten helfen», sagte Nitta im Gespräch mit japanischen Medienvertretern. Denkbar seien beispielsweise Kommunikationshilfen für Menschen mit dem Locked-in-Syndrom, die sich weder über Sprache noch über Körperbewegungen verständlich machen können.
Entwicklung braucht noch Zeit
Zunächst müsse aber die Treffsicherheit des Systems weiter verbessert werden, indem verschiedene Grundmuster der Hirnströme herausgearbeitet werden, erklärte Nitta. Das mit künstlicher Intelligenz ausgestattete System müsse dann die individuellen Besonderheiten des jeweiligen Nutzers schrittweise lernen.
In etwa fünf Jahren wollen die Forscher ein erstes Hirn-Computer-Interface entwickeln, das zusammen mit einer Smartphone-App Gedanken in Sprache umwandelt.
Irgendwann werde diese Technologie Menschen, die ihre Fähigkeit verloren haben, über Sprache zu kommunizieren, diese Fähigkeit zurückgeben, so die Hoffnung der Forscher.
Zur Autorin
Susanne Steffen hat Ostasien-Wissenschaften an der Universität Duisburg studiert. Anschließend volontierte sie bei der Deutschen Welle, wo sie unter anderem Radiobeiträge und Moderationen auf Japanisch gemacht hat. Direkt nach ihrer Ausbildung erhielt sie das Angebot des japanischen öffentlich-rechtlichen Senders NHK, für vier Jahre als Austauschredakteurin nach Tokio zu kommen. Seit dem Jahr 2000 lebt sie in Tokio. Im Jahr 2004 hat sie den Medienservice JapanUpdate gegründet, mit dem sie europäische Medien bei der Japan-Berichterstattung sowie japanische Medien bei der Europa-Berichterstattung unterstützt. Darüber hinaus arbeitet sie als Japan-Korrespondentin des Focus-Magazins und seit 2009 berichtet sie für Café Europe.
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