Lahmgelegte Gerichte, eine mundtot gemachte Presse, Flüchtlinge, denen Solidarität verweigert wird, diskreditierte und als ausländische Agenten gebrandmarkte NGOs, Universitäten, die zum Schweigen gebracht wurden und die Dämonisierung Brüssels. Die Berichte aus Polen und Ungarn lassen keinen Raum für Illusionen: Unsere Grundwerte werden angegriffen. Das ist keine Anekdote, sondern ein dringlicher Anlass zur Sorge. Ohne den Kompass unserer Werte ist Europa richtungslos. Unsere gemeinsame Zukunft steht auf dem Spiel. Und wir sollten handeln – klar und entschieden.
Aber wir können nicht so stark auftreten, wie wir sollten. Warum? Aufgrund von Beschränkungen in den Verträgen. Das «Kopenhagen-Dilemma» verfolgt uns. Von Beitrittskandidaten fordern wir (laut der Kopenhagener Kriterien) solide Garantien für ihre institutionelle Fähigkeit, um unsere Werte aufrechtzuerhalten. Wenn die Kandidaten aber vollwertige Mitglieder geworden sind, erhalten sie automatisch einen Blankoscheck. Die (von den Gründervätern übernommene) Logik ist: Falls ein Staat Mitglied der Union ist, wird der Fortschritt nur in die Richtung vorwärts und aufwärts weisen. Weder die Gründerväter noch die Architekten der nachfolgenden Verträge haben gedacht, dass gravierende und systembedingte Rückschritte möglich seien.
Als ehemalige Kommissarin für Justiz und Grundrechte habe ich persönlich erlebt, wie schwer und mühsam es ist, einen Mitgliedsstaat für eine Verletzung der Grundwerte (zu denen er sich durch seinen EU-Beitritt verpflichtet hat) zur Rechenschaft zu ziehen – selbst wenn die verfassungsrechtliche Gewaltenkontrolle demontiert wird. Als Hüterin der Verträge kann die Kommission rechtliche Maßnahmen ergreifen, wenn ein Staat seine in den Verträgen festgehaltenen Verpflichtungen nicht nachkommt. Aber Probleme der Rechtsstaatlichkeit entstehen meistens im Bereich des nationalen Rechts. Selbst die Grundrechtecharta – seit dem Vertrag von Lissabon rechtlich bindend – enthält eine praktische Gesetzeslücke: Mitgliedstaaten können nur für Verstöße gegen die Charta zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie europäisches Recht anwenden (der berüchtigte Artikel 51). Also nicht, wenn über den Weg der Subsidiarität nationales Recht angewendet wird. Justiz, Medien, Hochschulen fallen zum Teil unter diese Klausel. Damit bleibt uns nur «die nukleare Option» des Sanktionsmechanismus in Artikel 7, dessen Anwendung aufgrund des Einstimmigkeitserfordernisses im Europäischen Rat politisch hypothetisch bleibt.
Dialog bleibt Art des Handelns
In Anbetracht dieser Schwierigkeiten überließ ich der Kommission 2014 ein Abschiedsgeschenk: den EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips. Zwischen dem (weichen) Hammer des politischen Drucks und dem Amboss von Artikel 7 wurde ein drittes Instrument geschaffen: eine strukturierte Form des Dialogs und der Problemlösung zwischen dem widerspenstigen Mitgliedstaat und der Kommission. Der Dialog bleibt die europäische Art und Weise des Handelns.
Aber dieser Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips wirkt nicht, wenn sich Länder der EU dazu entschlossen haben, die europäischen Werte systematisch zu missachten und die grundlegenden Regeln bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz oder der Pressefreiheit außer Kraft zu setzen. Nach eineinhalb Jahren diplomatischen Austauschs zwischen Warschau und der Kommission (und noch viel länger im Fall von Budapest!) müssen wir uns fragen: Was soll man mit einem Mitgliedstaat tun, der die verfassungsrechtliche Grundlage seiner Demokratie zerstört? Genau deshalb brauchen die europäischen Institutionen neue Werkzeuge, um diese Herausforderungen überzeugend bewältigen zu können.
Die Abschaffung von Artikel 51 der Charta ist wichtig. Sie würde aus unserer Charta ein echtes «europäisches Bill of Rights» machen. Das Europäische Parlament hat sich in seinem Bericht über die Zukunft der EU für diesen Ansatz ausgesprochen. Ein anderes Werkzeug im Arsenal der Kommission sollte die Möglichkeit sein, EU-Fonds für Mitgliedstaaten auszusetzen, die sich wiederholt über unsere gemeinsamen Werte hinwegsetzen. Kein Geplänkel, aber die klare Anwendung jener Konditionalitätsklauseln, die bereits in unseren internationalen Handelsabkommen mit Drittstaaten eingeschrieben sind.
Dies ist eine Frage der Glaubwürdigkeit. Die EU kann nicht weltweit die Werte der Solidarität, der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit anpreisen, während sie selbst nicht dazu in der Lage ist, diese Werte zu Hause durchzusetzen. Diese Werte sind unser Kompass, sie leiten unser gemeinsames Handeln. Mitgliedstaaten, die diese Werte systematisch missachten, zerstören diesen Kompass. Sie drohen, unsere Union ihrer Seele zu berauben. Und somit eines der bedeutendsten politischen Konstrukte aller Zeiten zu Fall zu bringen. Es ist unumgänglich geworden, dieses Problem zu lösen. Und zwar sofort.
Viviane Reding
*Viviane Reding ist Mitglied des Europäischen Parlaments und ehemalige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission.
"Unsere Werte achten oder mit finanziellen Einbußen rechnen"
NEIN! Dann bleibt da, wo ihr seit!
Eurokonvergenzkiterien, Dublin, No-Bailout, Schengen, CETA ohne demakratische Abstimmung- Zur Erinnerung, es war NICHT Ungarn und auch nicht Polen, die vorgenannte grundlegende Regeln mit einem Federstrich außer Kraft gesetzt haben! Die EU selbst selbst zersetzt ihre Glaubwürdigkeit.
Polens und Ungarns Reformbestrebungen werden karikaturhaft schlecht gemacht und nur selten kommt die Gegenseite zu Wort, vielmehr wird eine dpa Naricht 1 zu 1 übernommen. Die von Milliardär Soros geförderten NGO's z.B. sind mehr als fragwürdig und würden unter umgekehrten Vorzeigen in D oder L auch in Frage gestellt. So ärgert sich Deutschland , mit Recht, über die Einflussnahme von Erdogans Orgnisationen in Deutschland und will diese auch verbieten.