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Wir alle sind Europa

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«Ich habe keine Angst», skandierten die Massen in den Straßen Barcelonas, nachdem ein Lieferwagen auf der Flaniermeile Las Ramblas in die Menschenmenge gelenkt wurde und dabei mindestens 14 Personen tötete und 130 weitere verletzte. Diese Kundgebung war die würdigste und passendste Antwort auf den Terroranschlag, eine entschiedene Demonstration der Einheit, die innere Spaltlinien überwand. Obwohl die Gräben etwa zwischen Spaniern und Katalanen wohl bald wieder in Erscheinung treten werden, muss dieses grundsätzliche Gefühl der Einheit bestehen bleiben.

Nach den Anschlägen in Paris, Brüssel, London, Nice und Berlin – von Madrid im Jahr 2004 ganz zu schweigen – sollte die Wahl Barcelonas als Anschlagsziel nicht überraschen. Barcelona ist nicht nur die europäische Stadt, die die höchste Zahl an Einwanderern aus dem Maghreb, insbesondere aus Marokko, anlockte, sondern auch ein Symbol des interkulturellen Dialogs und der Toleranz.
Tatsächlich ist die Promenade Las Ramblas – eine der beliebtesten Touristenattraktionen der Stadt – selbst ein Symbol der Offenheit: Unter den Opfern des Anschlags waren über 30 Nationalitäten vertreten.

Einer der Verdächtigen gestand anschließend, dass seine Terrorzelle auch Sprengstoffanschläge auf bedeutende Denkmäler wie die weltberühmte Kirche Sagrada Família plante – ein deutliches Zeichen, dass man versuchte, die Seele der Stadt zu treffen. Derartige Anschläge mit Symbolwirkung sind heute von besonderer Bedeutung. Der als zentrale Inspirationsquelle für den grenzüberschreitenden Terror dieser Tage dienende Islamische Staat (IS) steht vor der totalen Niederlage, weswegen die Gruppe überstürzt alle noch verfügbaren Waffen einsetzt – nämlich ihre Fähigkeit, junge Möchtegern-Terroristen auf der ganzen Welt zu motivieren.

«Schläferzellen»

Anders als im Falle von Anschlägen der Al-Kaida in der Vergangenheit gehören zu den internationalen «Schläferzellen» des IS nicht unbedingt Absolventen von IS-Trainingscamps in Ländern wie dem Irak und Syrien. Vielmehr bestehen diese Zellen aus Angehörigen der dritten und vierten Generation von Einwanderern aus muslimischen Ländern, die sich sowohl ihrem Heimatland als auch dem Land ihrer Großeltern entfremdet fühlen. Sie streben nach Sinn und Identität – emotionale Güter, die der radikale Islam und insbesondere die Ideologie des IS bieten können.

Im Falle des Anschlags von Barcelona soll der marokkanische Imam Abdelbaki Es Satty, der bei einer Explosion in der Bombenwerkstatt der Terrorzelle starb, für die Radikalisierung der jungen Attentäter verantwortlich gewesen sein. Allerdings ist eine derart deutliche Verbindung nicht immer vonnöten; der Attentäter des Bombenanschlags in der Manchester Arena vom Mai hatte zwar Gefährten, die von seinen Plänen wussten, war aber nicht Teil eines terroristischen Netzwerks.

Obwohl sich das selbsternannte Kalifat des IS am Rande des Zusammenbruchs befindet, ist ein Anstieg der Terroranschläge im Ausland möglich.
Das könnte noch mehr Muslime in Europa ermutigen, derartige Aktionen lautstark zu verurteilen, wie das die Bewegung «Nicht in meinem Namen» tat. Ganz gewiss wird es jedoch die Regierungen dazu veranlassen, vermehrt praktische Maßnahmen zu ergreifen.

Frankreich hat beispielsweise bereits Pläne angekündigt, die sogenannte «Nachbarschaftspolizei» wieder einzuführen, die sich mit Überwachungsaufgaben auf Gemeindeebene beschäftigt. Eine derartige Überwachung kann sowohl als Instrument der Information als auch der Abschreckung dienen und daher als wirksamer Bestandteil einer umfangreicheren Strategie genutzt werden, zu der auch Maßnahmen von der Verstärkung der Grenzpolizei und der Nachrichtendienste bis hin zu einer militärischen Intervention im Nahen Osten oder Afrika gehören.

Doch das wird alles nicht reichen, um sich der Identitätskrise der Einwanderer der zweiten und dritten Generation zuzuwenden, die sich als anfällig für die IS-Ideologie erwiesen haben. Die wirksamste Methode, dieses Problem in Angriff zu nehmen, besteht darin, die Integration durch konkrete Maßnahmen zu fördern, im Rahmen derer Bildung und soziale Assimilation ebenso unterstützt werden wie einen offenerer Dialog zwischen den verschiedenen Gruppen.

Das Problem besteht freilich darin, dass es seine Zeit dauert, bis eine derartige Strategie zu Ergebnissen führt und Zeit ist etwas, das westliche Demokratien nicht haben, wenn es um Terrorismus geht. Jenseits der direkten Gefahr weiterer Opfer greift unter den Menschen Angst um sich, die populistische Politiker eifrig auszunutzen versuchen.

Sirenengesänge

Bislang haben die westlichen Demokratien den Sirenengesängen der Fremdenfeindlichkeit größtenteils widerstanden und sind den liberalen Werten weitgehend treu geblieben. Wenn es dem IS darum geht, im Westen – insbesondere in Europa, das als Schwachstelle erachtet wird – die Saat der Spaltung und des Chaos zu säen, dann ist er bislang gescheitert. Doch der Krieg gegen den islamistischen Terror ist noch lange nicht vorbei. In unseren Gemeinden und Ländern – und auch auf europäischer Ebene – müssen wir geduldig, widerstandsfähig und geeint bleiben. Die jüngste, von einem marokkanischen Teenager in Finnland verübte Messerattacke unterstreicht die Realität, dass ein Land keine große Rolle in der Koalition gegen den IS in Syrien und dem Irak spielen muss, um als Anschlagsziel in Frage zu kommen; es reicht, eine offene, europäische Gesellschaft zu sein.

In Anbetracht dieser Tatsache, genügt es nicht zu sagen: «Wir alle sind Barcelona.» Vielmehr müssen wir sagen: «Wir alle sind Europäer.» Dabei handelt es sich nicht nur um eine symbolische, sondern um eine deskriptive Erklärung, die unsere Reaktion auf die terroristische Bedrohung zu leiten hat. Obwohl Maßnahmen auf nationaler Ebene – wie Spaniens Anti-Terror-Kooperation mit Marokko – notwendig sind, können sie nur im Kontext umfassenderer europäischer Maßnahmen funktionieren, zu denen der Austausch geheimdienstlicher Informationen ebenso gehören wie Migrationspolitik und die Zusammenarbeit von Polizei und Sicherheitskräften.

Da die Rolle der Vereinigten Staaten als stabiler Akteur und legitimes Vorbild erodiert, muss Europa heute mehr tun, um an deren Stelle zu treten.
Der islamistische Terror kann diese Bestrebungen entweder unterminieren oder fördern. Ein entscheidender Sieg im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus ist nur möglich, wenn dieser Kampf in Europa als Quelle der Einheit dient, die unsere tief verwurzelten Verbindungen und unsere gemeinsamen demokratischen Ideale stärkt.

Dominique Moisi, leitender Berater am Institut Montaigne in Paris und Verfasser von «La géopolitique des séries ou le triomphe de la peur»

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier
Copyright: Project Syndicate, 2017
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