Die Liste der Krisen, die den Nahen Osten erschüttern, wird immer länger. Im Jemen tobt ein Bürgerkrieg inmitten einer unkontrollierbaren Cholera-Epidemie. In Jerusalem spitzt sich die religiöse Gewalt zu, während der religiös motivierte Krieg in Teilen von Irak und Syrien unvermindert weitergeht. Besonders unheilvoll ist eine neue Dimension des Antagonismus zwischen Saudi-Arabien und Iran, die darauf schließen lässt, dass eine direkte Konfrontation zwischen den führenden Mächten des sunnitischen und schiitischen Islam nicht mehr ausgeschlossen ist.
Ausgerechnet in einer Situation, in der die Region dringend die ruhige Hand einer internationalen Führung benötigt, ist keiner der üblichen Akteure stark genug, oder engagiert genug, sich wirksam einzusetzen. Was die Region braucht, ist ein neuer diplomatischer Rahmen – mit der starken Unterstützung eines neuen Vermittlers: China.
Durch den Export von Terrorismus und religiös motiviertem Extremismus ist der Nahe Osten im negativsten Sinne „global“ geworden. Während der „unglückseligen“ Seite der Globalisierung, wie es der ehemalige französische Finanzminister Michel Sapin einmal ausgedrückt hat – etwa Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit –, viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist zu wenig unternommen worden, um die Ausbreitung extremistischer Gewalt einzudämmen oder bei ihren Ursachen anzusetzen. Viele diplomatische Formeln sind ausprobiert worden, doch Fortschritte bleiben aus.
Neues Denken und neue Führung notwendig
Im 16. und 17. Jahrhundert musste Europa verheerende Religionskriege durchmachen, aber das Christentum war weitgehend geeint, als es mit der Bedrohung eines expandierenden Osmanischen Reichs konfrontiert wurde. Im 19. Jahrhundert kam dann im empfindlichen Kräftegleichgewicht zwischen europäischen Mächten durch den Zerfall des Osmanischen Reichs die „Orientalische Frage“ auf. Letzten Endes schürte dessen Niedergang Konflikte auf dem Balkan und führte zu Rivalitäten, die in den Ersten Weltkrieg mündeten.
Auch heute funktionieren die überwiegend europäischen beziehungsweise westlichen Ansätze nicht mehr, die die Stabilität im Nahen Osten gewährleisten sollen. Ein europäischer Spitzendiplomat hat mir unlängst gesagt, die Krise im Nahen Osten benötige dringend ein neues Denken und eine neue Führung.
Er schlug ein ähnliches Forum wie in Helsinki vor, in dem eine ganze Reihe verschiedener Länder ein gemeinsames, wenn auch auf eine Region konzentriertes, Problem angehen. Der Vorschlag meines Gesprächspartners ist innovativ und möglicherweise wegweisend. 1975 ist in Helsinki, Finnland, ein Mechanismus geschaffen worden, um zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, den Supermächten des Kalten Krieges, Spannungen abzubauen und den Dialog zu ermöglichen. Die Schlussakte von Helsinki, in der die Souveränität und territoriale Integrität hervorgehoben wurden, war ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur strategischen Deeskalation. Einige Beobachter betrachteten die Vereinbarungen von Helsinki, die mit breiter Unterstützung europäischer und westlicher Länder getroffen wurden, als Anfang vom Ende des Kalten Krieges (den weder die Souveränität noch die territoriale Integrität der Sowjetunion überdauert haben).
Die geopolitische Landkarte hat sich seit 1975 wesentlich verändert, aber die grundlegende Prämisse des Helsinki-Prozesses – gegenseitiger Respekt aufbauend auf allgemeinem Konsens – hat nicht an Relevanz verloren. Bedauerlicherweise scheinen weder die USA noch Europa in einer Position, einen solchen Ansatz für den Nahen Osten auf den Weg zu bringen. Ich bin der Ansicht, dass China als wichtigste aufstrebende Macht der Welt hier eine Möglichkeit hat, sich formell und sinnvoll zu engagieren.
Ein Engagement Chinas würde eine erhebliche Abweichung von seiner bisherigen Politik bedeuten. Über weite Teile der Reformphase des Landes hat die chinesische Führung innenpolitische Prioritäten verfolgt und sich international in Zurückhaltung geübt. Doch in den letzten Jahren ist die Bereitschaft Chinas größer geworden, eine globale Rolle zu spielen, was seine Führungsrolle im Klimaschutz und seine Bemühungen, zwischen Sudan und Südsudan zu vermitteln, verdeutlichen. Als Frankreich 2015 einen letztlich erfolglosen Versuch unternahm, den israelisch-palästinensischen Friedensprozess neu zu beleben, zählte China zu den stärksten Befürwortern der Initiative.
Kein imperialistisches Erbe in der Region
Eine Beteiligung Chinas an der Diplomatie im Nahen Osten ist politisch und möglicherweise auch unter kulturellen und historischen Aspekten sinnvoll. China ist weniger anfällig für sicherheitsrelevante Entwicklungen im Nahen Osten (außer in der Energieversorgung) als Europa und es hat kein imperialistisches Erbe in der Region – und somit keine emotionale Last aus der kolonialen Vergangenheit. Außerdem haben die Chinesen weder Partei für Saudi-Arabien ergriffen wie die Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump noch für Iran wie Russland unter Präsident Wladimir Putin. Und China trägt, anders als Europäer, nicht an der Schuld für vergangene Verbrechen an Arabern und Juden.
Natürlich könnte China entscheiden, sich nicht den Tücken der Diplomatie im Nahen Osten auszusetzen. China bleibt, zumindest rhetorisch, der Politik der Nichteinmischung verpflichtet und seinen Bürgern könnte es an Begeisterung mangeln. Ein chinesischer Experte für Außenpolitik erzählte mir vergangenes Jahr in Peking, dass die mangelnde Bereitschaft, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, zum Teil auf die Ein-Kind-Politik zurückzuführen sei, die über 30 Jahre lang durchgesetzt wurde. Warum sollten chinesische Eltern das Leben ihres einzigen Kindes wegen weit entfernter Länder aufs Spiel setzen, die keine Bedrohung für China darstellen?
Und trotzdem könnte China im Rahmen eines internationalen Engagements auf breiter Basis, ähnlich wie beim Helsinki-Prozess, tatsächlich in der besten Position sein, einen Beitrag zur langfristigen Stabilität im Nahen Osten zu leisten. In Anbetracht des kollektiven Scheiterns der üblichen Akteure dürfte eine Neubesetzung kaum von Nachteil sein.
Dominique Moïsi ist Leitender Berater am Institut Montaigne in Paris. Er ist der Verfasser von „La Géopolitique des séries ou le triomphe de la peur“.
Copyright: Project Syndicate, 2017
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Aus dem Englischen von Sandra Pontow
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