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Rückzieher in Sachen Kruzifixe

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in Sachen Kruzifixe in öffentlichen Schulen der Staatsräson gebeugt. Vor zwei Jahren war dies noch eine Verletzung der Religionsfreiheit und des Grundrechts auf Erziehung, jetzt sieht es anders aus.

Kruzifixe in Klassenzimmern sind mit der Menschenrechtskonvention vereinbar. Mit diesem überraschenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Wogen der Kritik aus Italien, Bayern und anderen Staaten geglättet. Es ging um die Klage einer Mutter aus Italien, die die Kruzifixe in der staatlichen Schule ihrer Kinder als Verstoß des Grundrechts auf Erziehung und auf Religionsfreiheit betrachtet hatte.

Wortlaut
«Die Entscheidung, ob Kruzifixe in Klassenzimmern staatlicher Schulen angebracht sein sollen, gehört zu den Aufgaben, die der italienische Staat übernimmt und fällt folglich in den Anwendungsbereich von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung). Daraus ergibt sich auf diesem Gebiet eine staatliche Verpflichtung, das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.» (…)
«Der Gerichtshof war der Auffassung, dass sich nicht beweisen lässt, ob ein Kruzifix an der Wand eines Klassenzimmers einen Einfluss auf die Schüler hat, auch wenn es in erster Linie als religiöses Symbol zu betrachten ist. Zwar war es nachvollziehbar, dass (die Beschwerdeführerin) Frau Lautsi die Kruzifixe in den Klassenräumen ihrer Kinder als staatliche Missachtung ihres Rechts sah, deren Unterricht entsprechend ihren eigenen weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen; diese subjektive Wahrnehmung reichte aber nicht aus, um eine Verletzung von Artikel 2 Protokoll Nr. 1 zu begründen.» (…)
«Schließlich genießen Staaten einen Beurteilungsspielraum, wenn es darum geht, ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts mit der Achtung des Rechts der Eltern zu vereinbaren, diesen Unterricht entsprechend ihren religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen. Der Gerichtshof hat daher im Prinzip die Entscheidungen der Staaten auf diesem Gebiet zu respektieren, einschließlich des Stellenwerts, den sie der Religion beimessen, sofern diese Entscheidungen zu keiner Form der Indoktrinierung führen. Die Entscheidung, Kruzifixe in Klassenzimmern anzubringen, fällt folglich in den Beurteilungsspielraum des Staates, zumal es in der Frage der Präsenz religiöser Symbole in staatlichen Schulen unter den Mitgliedstaaten des Europarats keine Übereinstimmung gibt. Der Beurteilungsspielraum der Staaten geht allerdings Hand in Hand mit der Kontrolle durch den Gerichtshof, dem es obliegt sicherzustellen, dass Entscheidungen auf diesem Gebiet nicht zu einer Indoktrinierung führen.» (dpa)

Überraschend ist das Urteil, weil die erste Instanz vor zwei Jahren noch das genaue Gegenteil festgestellt hatte. In einem weltanschaulich neutralen Staat, so wie er in der Verfassung Italiens verankert ist, haben Kruzifixe in staatlichen Schulen nichts zu suchen, befand damals der EGMR. Diese Entscheidung war nichts weiter als eine klare Auslegung von Artikel 9 der Menschenrechtskonvention über die Religionsfreiheit. Zu dieser Einschätzung war auch schon das italienische Verfassungsgericht gekommen, das zuvor Kruzifixe aus Gerichtssälen verbannt hatte.

«Beispielloser Gegenwind»

Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers von der Humboldt Universität Berlin findet das neue Urteil allerdings nicht überraschend, im Gegenteil. Ein Urteil wie in erster Instanz könne es nicht geben, sagte Möllers bereits im Vorfeld dieser höchstrichterlichen Grundrechtsentscheidung. Der EGMR habe «beispiellosen Gegenwind» bekommen und sei auch aus Deutschland politisch unter Druck gesetzt worden.

Man kann das Urteil aber auch als weise Entscheidung betrachten, denn der EGMR ist zuständig für die Grundrechte in 47 europäischen Länder, für das griechisch-orthodoxe Griechenland mit seiner Staatskirche, für Länder mit strikter Trennung von Staat und Kirche wie Frankreich, bis hin zu Großbritannien, wo die Queen Oberhaupt der anglikanischen Kirche ist. Es käme dort wohl niemand auf die Idee, das Bild der Queen aus Klassenzimmern verbannen zu wollen.

Bei der Anhörung dieses italienischen Falles im Juni 2010 empfahl ein jüdischer Rechtsprofessor aus New York den Richtern, die Entscheidung über Kruzifixe, christliche Traditionen und andere sensible Glaubensfragen den Regierungen zu überlassen. Genau das hat der Gerichtshof jetzt getan, und hat ein langjähriges Streitthema aus der Welt geschafft.