Headlines

Als Los Angeles brannte

Als Los Angeles brannte

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Vier Polizisten prügeln einen Schwarzen halb tot – und werden freigesprochen. Der Fall Rodney King führte vor 20 Jahren zu den letzten schweren Rassenunruhen in den USA.

Das Video ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Am frühen Morgen des 3. März 1991, kurz vor 1 Uhr, prügelten vier Polizisten in Los Angeles hemmungslos auf den 25-jährigen Rodney King ein, einen Kleinkriminellen, der auf der Interstate 210 mit übersetzter Geschwindigkeit gemessen worden war. Er hatte zu flüchten versucht, weil er alkoholisiert war und um seine Bewährung wegen eines Raubdelikts fürchtete, wie er aussagte.

Bei der Verhaftung leistete King Widerstand. Ein Anwohner filmte die Szene mit seinem Camcorder. Das im Original mehr als neun Minuten lange Video zeigt, wie die Polizisten King mit mehr als 50 Stockschlägen und sechs Tritten traktierten. Sie schlugen auch dann noch auf den jungen Schwarzen ein, als er längst wehrlos am Boden lag. Rodney King wurde schwer verletzt, er erlitt eine Hirnerschütterung und mehrere Knochenbrüche.

Bush ist verärgert

Die vier Polizisten – drei Weiße und ein Latino – wurden wegen Körperverletzung angeklagt. Auf Antrag der Verteidigung fand der Prozess in Simi Valley statt, einer Ortschaft, in der kaum Schwarze lebten. Folglich befand sich unter den Geschworenen auch kein Afroamerikaner. Deren Verdikt, das am 29. April 1992 live im Fernsehen übertragen wurde, lautete: Freispruch. Rodney King habe es in der Hand gehabt, die Prügelei zu beenden, hiess es als Begründung – angesichts der Videoaufnahmen ein Hohn.

Entsprechend heftig wurde das Urteil kritisiert. Selbst Präsident George Bush senior äußerte sein Missfallen. Doch nicht alle beliessen es beim verbalen Protest. Unter den Schwarzen in Los Angeles entlud sich aufgestauter Frust in einer Orgie der Gewalt, wie sie die USA selbst während der Bürgerrechtsbewegung der 50er- und 60er-Jahre nie erlebt hatten – während Tagen herrschten in LA bürgerkriegsähnliche Zustände.

«Können wir uns nicht einfach vertragen?»

Geschäfte wurden geplündert, Häuser und Autos in Brand gesteckt. Wer keine dunkle Hautfarbe hatte, musste um sein Leben fürchten. Für Entsetzen sorgte etwa der Fall des weissen Lastwagenfahrers Reginald Denny, der am Abend des 29. April an einer Kreuzung von mehren jungen Schwarzen aus dem Wagen gezerrt und beinahe tot geschlagen wurde. Die Szene wurde von einem News-Helikopter live übertragen. Die überforderte Polizei hatte sich da längst zurückgezogen, die öffentliche Ordnung war faktisch zusammengebrochen.

In diesem Vakuum wurde auf die Gewalt mit Selbstjustiz reagiert. Ladenbesitzer verteidigten sich und ihr Eigentum mit Schusswaffen. Am 1. Mai trat Rodney King vor die Medien und rief zu einem Ende der Unruhen auf: «Können wir uns nicht einfach vertragen?» Doch erst am vierten Tag brachte die Polizei mit massiver Unterstützung von Armee und Nationalgarde die Lage einigermaßen unter Kontrolle. Die verheerende Bilanz: 53 Tote, mindestens 2.000 Verletzte, mehr als 7.000 Verhaftungen und Sachschäden von rund einer Milliarde Dollar.

Soziale und ethnische Spannungen

Die USA hatten die schlimmsten Rassenkrawalle ihrer jüngeren Geschichte erlebt. Das Epizentrum war der Stadtteil South Central, der traditionell von Schwarzen bewohnt war. Diese waren nicht nur von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen, sondern fühlten sich auch von der Polizei schikaniert. Das Rodney-King-Video zeigte Szenen, die ihnen nur zu vertraut waren. Der Freispruch für die Polizisten lieferte den Funken, der zur Explosion führte.

Verstärkt wurde das Konfliktpotenzial durch den Zustrom von Einwanderern aus Lateinamerika und Korea. 1992 stellten die Schwarzen noch etwa die Hälfte der Bevölkerung von South Central. Die geschäftstüchtigen Koreaner hatten viele Läden übernommen, was bei den Schwarzen für Neid sorgte. Als eine koreanische Ladenbesitzerin, die eine 15-jährige Schwarze als vermeintliche Ladendiebin von hinten erschossen hatte, mit fünf Jahren auf Bewährung davonkam, nahmen die Spannungen zwischen den Volksgruppen weiter zu.

Noch heute klaffen Lücken

Ein Jahr nach den «Los Angeles Riots» wurden die vier Polizisten im Fall Rodney King erneut vor Gericht gestellt. Weil in den USA niemand zweimal wegen des gleichen Vergehens angeklagt werden kann, wurden sie beschuldigt, die Bürgerrechte von Rodney King verletzt zu haben. Zwei Polizisten erhielten je 30 Monate Gefängnis, die anderen beiden wurden erneut freigesprochen. Dieses Mal blieben Ausschreitungen jedoch aus.

In South Central, das seit 2003 South Los Angeles heisst, hat sich die Bevölkerungsstruktur weiter verändert. Rund zwei Drittel der Einwohner sind heute Latinos, schreibt die «New York Times». Die sozialen Probleme aber sind geblieben: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, wer einen Job hat, verdient kaum mehr als den Mindestlohn. Und wo damals Häuser zerstört wurden, klaffen vielfach auch 20 Jahre danach noch Lücken – «eine hartnäckige Erinnerung an die gebrochenen Versprechen, die Gegend wieder aufzubauen», so die «New York Times».

Trayvon Martin als neuer Fall King?

Rodney King erstritt vor Gericht eine Entschädigung von 3,8 Millionen Dollar. Glück hat sie ihm nicht gebracht. Er scheiterte beruflich und kam immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Noch heute leidet er unter Nachwirkungen der Schläge in Form von Kopfschmerzen und Gedächtnisstörungen. Zum Jahrestag hat der heute 47-Jährige ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «The Inner Riot» (Der innere Aufruhr). Auf der Promotour wird er immer wieder auf einen Fall angesprochen, der viele an damals erinnert: Den schwarzen Teenager Trayvon Martin, der in Florida von einem Nachbarschaftswächter erschossen wurde.

Zwar kam es zu Protesten, doch gewalttätige Ausschreitungen blieben aus. Der Prozess gegen den mutmasslichen Todesschützen George Zimmerman wegen vorsätzlicher Tötung muss allerdings erst noch stattfinden. Niemand weiss, was bei einem allfälligen Freispruch geschehen wird. «Die Familie verdient Gerechtigkeit», meinte Rodney King. Gleichzeitig mahnte er zur Mäßigung: «Wir müssen unsere Wut im Zaun halten.»

Peter Blunschi/20 Minuten/Tageblatt.lu