Sorgen um den Toursieger von 2010 aber darf man sich machen, wenn man die Abstände beim Prolog und dem Zeitfahren am Donnerstag über 53 km analysiert. Ein Sturz und ein Defekt erklären nämlich nicht alles.
Dauphiné in Zahlen
Critérium du Dauphiné, 4. Etappe von Villie-Morgon nach Bourg-en-Bresse (Einzelzeitfahren über 53,5 km):
1. Bradley Wiggins (Großbritannien/Sky) 1:03:12 Stunden, 2. Tony Martin (Deutschland/Omega Pharma) 0:34 Minuten zurück, 3. Michael Rogers (Australien/Sky) 1:11, 4. Wilco Kelderman (Niederlande/Rabobank) 1:25, 5. Sylvain Chavanel (Frankreich/Omega Pharma) 1:33, 6. Christopher Froome (Großbritannien/Sky) 1:33, 7. Luke Durbridge (Australien/Green- edge) 1:37, 8. Cadel Evans (Australien/BMC) 1:43, 9. David Millar (Großbritannien/Garmin) 1:51, 10. Luis-Leon Sanchez (Spanien/Rabobank) 1:53, 11. Jurgen Van Den Broeck (Belgien/Lotto) 2:12, … 25. Tony Gallopin (Frankreich) 3:12, 29. Markel Irizar (Spanien/beide RadioShack-Nissan) 3:27, 31. Vincenzo Nibali (Italien/Liquigas) 3:30, 32. Haimar Zubeldia (Spanien) 3:32, 52. Yaroslav Popovych (Ukraine) 4:51, 55. Tiago Machado (Portugal) 4:58, 92. Hayden Roulston (Neuseeland) 6:38, 164. Andy Schleck (Luxemburg/alle RadioShack-Nissan) 10.47.Gesamtwertung:
1. Wiggins 14:11:07 Stunden, 2. Martin 0:38 Minuten zurück, 3. Rogers 1:20, 4. Chavanel 1:38, 5. Evans 1:44, 6. Kelderman 1:45, 7. Froome 1:48, 8. Millar 2:00, 9. Sanchez 2:02, 10. Andriy Grivko (Ukraine/Astana) 2:18, 11. Van Den Broeck 2:22, … 21. Gallopin 3:24, 24. Nibali 3:39, 26. Irizar 3:53, 27. Zubeldia 3:53, 41. Machado 5:33, 65. Popovych 7:30, 114. Roulston 12:10, 135. Schleck 16:08.
Bei der Tour de France 2012, die am 30. Juni in Liège beginnt, gibt es mit Vorjahressieger Cadel Evans, dem Briten Bradley Wiggins, dem Italiener Vincenzo Nibali und dem nachträglichen Gewinner von 2010, Andy Schleck, vier ganz große Favoriten.
Drei davon sind 22 Tage vor dem Startschuss schon in ansprechender Verfassung, und nur einer, Andy Schleck, läuft der guten Form weiterhin hinterher.
Die Nonchalance und die Unbekümmertheit, mit der Andy diesen Tatbestand analysiert und akzeptiert, wundert und stört höchstens diejenigen, die nicht wissen, wie der Junge überhaupt funktioniert.
„Je passe au-dessus de ça“, diktiert Andy dem Reporter von LEquipe in den Schreibblock. Er stehe über all diesen Ängsten, die wer auch immer habe, betont er, und mache sich nicht die geringsten Sorgen im Hinblick auf die Tour de France.
„Il me manque le rythme parce que je n’ai plus fait de course depuis Liège (22 avril), mais tous les jours, je me sens de mieux en mieux“, meldet er dem Journalisten, und am Mittwochabend, 18.58 Uhr, twittert er mit seinem BlackBerry in die Welt hinaus: „I’m feeling better every day so I’m track for TDF! I keep up good work and good motivation and for everybody I’m not worried!“
Parallelen
Ein Blick auf die Vor-Tour-Rennen der Vergangenheit reicht, um Parallelen zu 2012 festzustellen.
Letztes Jahr gewann Andy bei der Tour de Suisse zwar das Bergpreisklassement, doch war seine Formschwäche in den Anstiegen nach Malbun und Serfaus offensichtlich. „Ich habe mich nicht wohlgefühlt, danach kaum forciert und bin die Steigungen in meinem Rhythmus hinaufgefahren“, sagte er damals: „Ich brauche allerdings nicht in Panik zu verfallen, denn vor einem Jahr (also 2010, d. Red.) war die Situation bei der Tour de Suisse ähnlich.“
Gehen wir ins Jahr 2010 und in den Albula-Pass zurück. „Ich habe gepokert“, sagte Andy damals, „später stellte sich heraus, dass ich in dem Anstieg zu früh angegriffen hatte. Der Berg ist unheimlich lang, ich hatte ihn etwas anders in Erinnerung. Für mich war es ein Test. Ich wollte wissen, wie weit ich im Moment gehen kann. ‹Op eemol sinn d’Luuten ausgaangen’… Ich musste Robert Gesink ziehen lassen. Der Holländer war unheimlich stark.“
Sowohl 2011 als auch 2010 betonte Andy immer wieder während der Tour de Suisse: „Es verbleibt noch reichlich Zeit. Bis zur Tour de France werde ich die optimale körperliche Verfassung schon erreicht haben.“ Im Jahr 2010 legte er sogar noch eine Schippe drauf: „Meine Form ist besser als zum selben Zeitpunkt im letzten Jahr (also 2009, d. Red.). Die ersten Bergetappen in der Tour de France stehen erst in drei Wochen an, die Pyrenäen gar erst in vier.“
Für Andy Schleck ist es mit den Vor-Tour-Rennen also ähnlich wie für den TV-Wetteransager Phil Connors mit dem „Tag des Murmeltiers“. In der preisgekrönten Filmkomödie aus dem Jahr 1993 muss dieser auf albtraumhafte Weise immer wieder denselben Tag durchleben.
Hinzugelernt
Andys „Murmeltier“-Woche spielt sich diesmal allerdings nicht in der Schweiz, sondern in Frankreich ab.
Dass RadioShack seinen Tour-de-France-Leader 2012 in das „Critérium du Dauphiné“ und nicht in die Tour de Suisse schickte, ist nach der peinlichen Panne vom letzten Jahr eine normale Sache.
Die Strecke des Zeitfahrens von Grenoble war nämlich identisch mit derjenigen der Tour de France, so dass es seitens der Verantwortlichen einer „faute professionnelle“ gleichkam, dies nicht in Betracht zu ziehen. Cadel Evans bereitete im Dauphiné seinen späteren Toursieg vor. Für die Leopard-Trek-Mannschaft (so hieß RadioShack vor einem Jahr) aber war das entscheidende Zeitfahren von Grenoble der reinste „Blindflug“, wie Spezialist Fabian Cancellara im Nachhinein meinte.
Weil erstens solche Fehler nicht wiederholt werden sollen, weil zweitens das gestrige „Contre-la-montre“ in Bourg-en-Bresse dieselbe Länge wie dasjenige der Tour in Chartres (53,6 km) hatte, und weil drittens die heutige Bergetappe mit dem Anstieg des „Col du Grand Colombier“ in weiten Teilen über dieselben Straßen führt wie die 10. Tour-Etappe von Mâcon nach Bellegarde, war es für Manager Johan Bruyneel nur normal, dass Andy sich dort mit den andern Tour-Favoriten Cadel Evans, Bradley Wiggins und Vincenzo Nibali messen sollte.
Gradmesser?
Die Erkenntnisse nach fünf Etappen, davon zwei Zeitfahren (Prolog, Etappe am Donnerstag) sind ernüchternd.
Nehmen wir den Prolog. Hier büßte Andy auf den 5,7 km 28 Sekunden auf Bradley Wiggins, 23 auf Cadel Evans und 19 auf Vincenzo Nibali ein. Das macht gegenüber Wiggins 4,912 Sekunden pro Kilometer aus. Rechnet man diesen Abstand auf die 101,4 km hoch, die bei der Tour de France als Zeitfahren anstehen, kommt man auf ein Total von etwas mehr als acht Minuten.
Erschreckender noch sind die Zahlen des 53,6 km langen Zeitfahrens von gestern. Hier büßte der jüngere der Schleck-Brüder als 164. von 171 Fahrern 10’47 (zehn Minuten und siebenundvierzig Sekunden) auf Etappensieger Bradley Wiggins ein, der damit sein Gelbes Trikot festigte.
Die Fahrt von Villié-Morgon nach Bourg-en-Bresse war eine einzige Qual für den Luxemburger, der im starken Seitenwind stürzte und später wegen eines Reifenschadens auch die Rennmaschine wechseln musste.
In der Folge fand er nie den richtigen Tritt, was Johan Bruyneel um 14.48 Uhr zum Twittern veranlasste: „Bad luck for @andy_schleck in today’s time trial. Nasty crash after 12 kms. Physical damage not too bad though.“
Kompetitionsmangel
Pech also für Andy, meint Bruyneel, aber die Verletzungen sollen so schlimm nicht sein. Auf der rechten Hinterbacke ist der Lack zwar ab, aber um den Start an der Tour de France braucht es einem nicht bange zu sein. Höchstens um das, was eventuell danach kommt.
Gesehen die Umstände (Sturz, Defekt) aber darf man die nackten Zahlen (10’47 Rückstand auf Wiggins) nicht überbewerten.
So schlecht kann Andy Schleck wirklich nicht sein, dass er auf relativ flacher Strecke 12 Sekunden pro Kilometer auf Bradley Wiggins einbüßt. Das Resultat aber ruft sogleich die Nörgler auf den Plan: „Das hätte Jan Ullrich mal passieren sollen so kurz vor der Tour, da wäre die Bild mit einer Sonder-Ausgabe rausgekommen“, schreibt beispielsweise das spezialisierte Internetportal radsportnews.com.
Für das Resultat am Donnerstag hat Andy Schleck eine valable Entschuldigung parat. Irgendetwas aber stimmt bedenklich: Ein jeder, der einmal Sport gemacht hat, weiß, dass viel Training allein nicht ausreicht, um auf dem internationalem Parkett zu bestehen. Wer sich die Mühe macht, Andys Rennkalender nach der letzten Tour de France zu analysieren, darf sich zumindest Fragen stellen.
Außer vier Nach-Tour-Kriterien (Stiphout, Gala TdF Luxemburg, Heerlen, Antwerpen) und der einwöchigen Colorado-Tour (Rang 33) steht da nur noch das Jux-Rennen in Curaçao (Amstel Curaçao) und sonst nix.
Kommen wir zur Saison 2012. Ehe es ins „Dauphiné“ ging, saß Andy nur 19 Renntage im Sattel (Trofeo Palma/1; Tour of Oman/6; Paris-Nice/2; Katalonien-Rundfahrt/3; Circuit de la Sarthe/4, Amstel Gold Race/1; Flèche Wallonne/1; Liège-Bastogne-Liège/1).
Zwei Rennen fuhr er nicht zu Ende (Paris-Nice, Katalonien), kein einziges Mal sprang ein Top-Ten-Rang heraus.
Wahrheit
In puncto Renntage hält Andy zwar den Vergleich mit Cadel Evans (18) und Bradley Wiggins (21) aus, doch legt die direkte Konkurrenz auch Wert darauf, ihren guten Ruf als Spitzenfahrer zu verteidigen, wenn sie sich zum Start an einem sogenannten „Vorbereitungsrennen“ entscheidet.
Evans gewann diese Saison eine Etappe und das Gesamtklassement des „Critérium International“, Bradley Wiggins neben Etappen auch die Schlusswertungen von Paris-Nice und der Tour de Romandie. Andys bester Rang 2012 war Platz 22 im „Circuit de la Sarthe“.
Wie geht es nun weiter? Wenn Andy Schleck heute aufwacht, schmerzt es ihn am ganzen Körper. Und dann muss er in die steilen Rampen des „Grand Colombier“. „I’m probably not going to feel great on the bike“, lässt er auf der Internetseite von RadioShack verlauten.
Schlecks erklärtes Ziel vor dem Dauphiné war es, auf der Samstagsetappe eine große Nummer im Anstieg des „Col de Joux Plane“ aufzuziehen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint solches fraglich.
Wirklich ernst wird es in drei Wochen in Liège beim Prolog der Tour. Die Stunde der Wahrheit schlägt eine Woche später im Anstieg nach „La Planche des Belles Filles“. Vielleicht taucht dort das Murmeltier wieder auf …
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können