Der Blick ist starr auf den grauen, erst kürzlich blitzblank gepflegten Marmorstein gerichtet. Der Firlefanz rundherum rückt völlig in den Hintergrund. Die Chorstimmen verschwinden, den Weihrauch riecht man nicht mehr, die Wassertropfen aus dem silbernen Kübel werden nicht wahrgenommen. Der Blick wandert auf die frischen Blumen, die den Stein noch grauer erscheinen lassen.
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Die Gedanken sind bei den verstorbenen Eltern. Anstatt an den Tod zu denken, steht eher das Leben im Vordergrund der Überlegungen. Ein Leben, das es ohne unsere Eltern nicht geben würde. Ein Leben, auf das sie uns in jungen Jahren mit viel Liebe, viel Geduld und viel Zeitaufwand vorbereitet haben. Sie lehrten uns, Werte als solche zu erkennen und ins rechte Licht zu rücken, Werte wie z.B. Anerkennung, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Pflichtgefühl, Pünktlichkeit, Toleranz, Zuverlässigkeit usw.
Sie nahmen sich die nötige Zeit, um uns die Bedeutung des Wortes „Respekt“ in all seinen Facetten zu erklären. Respekt – in der Alltagssprache hat der Begriff unterschiedliche Bedeutungen. Der ältere Mensch meint damit die Höflichkeit und Umgangsformen der Jugend. Für den Meister ist es eine Frage des Gehorsams: Wenn der Lehrling nicht spurt, dann ist das respektlos. Der Abteilungsleiter im Unternehmen deutet womöglich die kritischen Nachfragen des Mitarbeiters als mangelnden Respekt vor der Hierarchie. Und wenn einer „Respekt vor Kampfhunden“ äußert, ist Angst im Spiel. Vor allem aber wird Respekt so verstanden: als Achtung und Anerkennung des Gegenübers.
Achtung und Anerkennung des Gegenübers!? Ja, unsere Eltern haben sich bei allem Stress die nötige Zeit genommen, uns diese Begriffe einzubläuen, und dafür sollten wir danken. Sie haben uns klargemacht, dass nicht nur wir allein das Bedürfnis nach Respekt haben, sondern dass jeder Mensch sich danach sehnt, als Person wahrgenommen und anerkannt zu werden – in seiner Einzigartigkeit.
Schon als Säugling möchten wir, dass Rücksicht auf uns genommen wird. Wir sind darauf angewiesen, dass es Menschen gibt, die unsere Bedürfnisse anerkennen und uns so nehmen, wie wir sind. Schlägt uns stattdessen Unverständnis entgegen, nimmt die kleine Seele schon ersten Schaden. Und dieser Wunsch nach Rücksicht bleibt ein Leben lang erhalten. Das Abwerten ist aber schneller getan als einen Menschen wirklich kennenzulernen. Das ist – leider – der heutige Zeitgeist.
Warum uns gerade diese Gedanken bei der Friedhofsstille kommen? In diesen Wochen und Monaten tun sich viele Zeitgenossen schwer mit dem Begriff „Rücksicht“, dagegen üben sie sich aber zunehmend und mit einer gewissen Leichtigkeit im Abwerten von Mitmenschen, denen sie noch nicht einmal begegnet sind.
An den bevorstehenden Festtagen, an denen sich traditionsgemäß die Familien zusammenfinden, täten wir wahrscheinlich besser daran, anstatt über den „Tod“ über das „(Zusammen-)Leben“ zu sprechen. Unserer Gesellschaft würde das sicherlich von großem Nutzen sein.
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