Headlines

Blick in den Spiegel

Blick in den Spiegel

Jetzt weiterlesen! !

Für 0.99 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Rechte beschnitten, wen kümmert das schon

Mit Swetlana Alexijewitsch weilte vergangene Woche nicht bloß eine Literaturnobelpreisträgerin in Luxemburg, sondern auch eine engagierte Verfechterin von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten.
Die Schlussfolgerungen aus ihrem jahrelangen Engagement in ihrer Heimat sind ernüchternd. Die Intellektuellen, die Anfang der 90er-Jahre in Russland und anderen postsowjetischen Republiken für Demokratie und bürgerliche Rechte eintraten und dabei auf die Unterstützung der Öffentlichkeit hofften, wurden enttäuscht. „Wir waren wohl Romantiker“, sagt sie heute. Sicher, die Bürger wollten die Wahrheit hören und lesen, aber als das vollumfänglich möglich geworden war, blieben Solschenizyns Bücher einfach in den Regalen liegen. Die Menschen wollten bloß schöner leben, Urlaub in Ägypten machen, sagt Alexijewitsch. Was erklärt, dass nur wenige heute auf die Straße gehen. Womit sie die Protestbewegung gegen die Präsidentschaft von Wladimir Putin und dessen Regierungspolitik ansprach.

Szenenwechsel Europa, dort, wo rechte Bewegungen erstarken, sich als politische Kraft mit Aussicht auf Wahlerfolg etablieren – und das in fast allen EU-Ländern. Bedenklich dabei ist insbesondere die Entwicklung in Deutschland, das es aufgrund seiner Geschichte eigentlich besser wissen müsste. Zwar regt sich auch dort der Widerstand gegen Pegida und andere Gidas, doch verglichen mit den Protestbewegungen aus der Vergangenheit ist er zum kümmerlichen Rest geschrumpft. Und das trotz geballter Feuerkraft aller großen Medien, die sich resolut gegen die ausländerfeindlichen Stimmungen positionieren.
In Frankreich greift ein rechtspopulistischer, mit fremdenfeindlichen Parolen operierender „Front national“ nach der Macht, während Präsident und Regierung unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung drastische Maßnahmen beschließen. Zum Opfer fallen ihnen scheibchenweise Bürgerrechte und Freiheiten. Im Frankreich der Menschenrechte und der Demokratie gilt seit etlichen Monaten der Ausnahmezustand. Dort geborenen Franzosen mit doppelter Staatsangehörigkeit droht der Entzug der französischen Staatsbürgerschaft. Im Dschungel-Camp bei Calais werden Migranten quasi per Bulldozer verjagt. Massenproteste der Zivilgesellschaft sind bisher kaum zu vernehmen. Im Kaczynski-Polen gehen zwar Tausende auf die Straße gegen eine Regierung, die offen Bürgerrechte beschneidet – ein populäres „raz-de-marée“ ist das jedoch nicht. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Etwa mit den beschämenden Ereignissen an der mazedonisch-griechischen Grenze, wo Kinder und Frauen in Regen, Schlamm und Kälte ausharren müssen.

Wo sind die Verteidiger von Demokratie und Freiheit geblieben? Sind Europas Bevölkerungen tatsächlich so abgestumpft, dass sie die schleichende Erosion des demokratischen Fundaments in ihrer großen Mehrheit nicht mehr wahrnehmen? Oder ähnelt das ach so vorbildlich demokratische „West“-Europa nicht vielleicht doch ein bisschen dem verschmähten Putin-Russland? Interessieren Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte die wenigsten, solange der Rest stimmt? Solange die Läden weiterhin gut sortiert sind, die nächsten Urlaubstrips fest eingeplant werden können, die nächste Steuerreform einige Euros zusätzlich im Portemonnaie lässt?
Wie wäre es im beschaulichen Luxemburg? Würden bei uns Menschen zu Tausenden auf die Straße gehen, wenn demokratische Rechte bedroht wären? Sollte die Antwort negativ sein, müsste man sich zusammen mit Swetlana Alexijewitsch nicht nur um den Zustand von Demokratie und Menschenrechten in Russland oder Weißrussland, sondern auch um jenen in unseren Breitengraden sorgen. Hoffentlich bleibt uns der Test unter realen Bedingungen erspart.