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Fantasie an die Macht

Fantasie an die Macht
(Alain Rischard/editpress)

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Traum und Wirklichkeit: Zum 50. Todestag André Bretons

Vor 50 Jahren starb André Breton. Der Wortführer der Surrealisten. Der „dichterisches Leben bis an die Grenzen des Möglichen“ treiben wollte, die Fantasie vor Logik stellte, der mit Traumprotokollen und der Ecriture automatique arbeitete und der bereits bei seiner Beerdigung eher belächelt denn ernst genommen wurde.

Denn durch die Grauen des Zweiten Weltkriegs wurde die Kunst grundsätzlich hinterfragt – Poesie nach dem Holocaust sei barbarisch, so Adorno. Der Existentialismus war an die Stelle des Surrealismus getreten und mit ihm eine Kunst des politischen Engagements und der Vernunft. Für Träume war kein Platz mehr. In Beruf und Alltag sowieso nicht, aber auch in der Kunst nicht.

Tja, und heute – so scheint es – ist unsere Welt endgültig leer. Ausgeträumt. Uns fehlen die Zeit, die Fantasie und der Mut, um zu träumen. Denn auch wenn es unserer modernen Selbstauffassung eigentlich widerspricht, erfahren wir uns eben nicht als unser Leben autonom gestaltende Individuen, sondern fühlen uns der Dynamik übergeordneter Zwangskonstellationen und Machtverhältnisse ausgeliefert.

Nicht wir leben unser Leben, sondern unser Leben lebt uns. Wir funktionieren. Als klitzekleines Rädchen in einem gigantischen, unüberschaubaren, sich ständig verändernden System. Träume oder gar ihre Verwirklichung haben darin keinen Platz.

„Peres’ life was driven by big dreams“, sagte Barack Obama zum Tode des israelischen Staatsmannes. Ein Satz, der eigentlich nicht verwundern sollte. Denn wenn wir uns schon nicht mehr trauen, zu träumen, so sollten es doch wenigstens unsere „Staatsmänner“ tun. Um uns als Vorbild zu dienen, um uns in ihre Träume mitzureißen. Träume von einer besseren, von einer gerechteren Welt. So wie die Träume eines Martin Luther King, eines Nelson Mandela, eines Jean Monnet oder eines Robert Schuman.

Dass der Satz von Barack Obama wehmütig stimmt, liegt daran, dass Obama selbst keine Träume mehr hat. Seine Hommage an Peres klingt gleichzeitig wie ein Eingeständnis. Von der Realpolitik desillusioniert, wirkt er resigniert und damit machtlos. Dabei ist Barack Obama die Verwirklichung eines Traumes in Person, jenes Traumes von Martin Luther King und Millionen Menschen weltweit.

Als erster afroamerikanischer Präsident. Doch an seine Stelle könnte nun Trump treten. Der von einem weißen, waffenliebenden Amerika träumt. Seine Träume sind eher Albträume. Doch sie wirken leidenschaftlich. Und das reicht, um die Massen mitzuziehen.

In Zeiten, in denen der Populismus auf dem Vormarsch ist, wachsen die Anforderungen an die Kunst. Denn nur sie kann ihrer Zeit entgegenwirken. Sie ist Entschleuniger und Projektionsfläche. Sie kann den tiefsten Ängsten und Fantasien der Menschen einen Platz geben. André Breton wollte genau dies tun und dadurch das Leben wieder mit Leidenschaft aufladen.

Er und seine Kollegen schrieben deshalb Werke, die erahnen lassen, dass eine Verzauberung, ein anderes Leben möglich ist. Die uns mit dem Gedanken spielen lassen, die „große Verweigerung“ im Hier und Jetzt umzusetzen. Und wieder zu träumen.