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Rückzug in die Isolation

Rückzug in die Isolation
(Christopher jue)

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In Japan ziehen sich immer mehr Menschen teils jahrelang aus der Gesellschaft zurück. Sie leben isoliert, werden oft versorgt von ihren Eltern. Doch auch die werden immer älter.

Otochika Ichikawa ist ein freundlicher älterer Herr. Wenn der 70-jährige Japaner spricht, lächelt er seinen Gesprächspartner an, schaut ihm selbstbewusst in die Augen. Ichikawa unterhält sich gerne mit anderen Menschen. Er weiß aus bitterer Erfahrung, wie wichtig Kommunikation ist. «Als meine Tochter 14 Jahre alt war, weigerte sie sich, in die Schule zu gehen», erzählt Ichikawa. Pausenlos habe seine Tochter zu Hause Schulbücher und Hefte durchgeblättert, um sicherzugehen, dass sich nichts zwischen den Seiten befindet. Warum, wusste niemand. «Als sie Medikamente bekam, ging es ihr besser. Danach blieb sie fünf Jahre zu Hause», erinnert sich Ichikawa. Seine Tochter wurde einer «Hikikomori». Jemand, der sich zu Hause einschließt und aus der Gesellschaft zurückzieht.

Als Hikikomori leben nach einer jüngsten Erhebung der Zentralregierung in Japan etwa 541 000 Menschen im Alter von 15 bis 39 Jahren. Immer mehr Betroffene ziehen sich dabei über längere Zeiträume aus dem Leben in der Gesellschaft zurück. Bei rund 35 Prozent seien es mehr als sieben Jahre. In einer erstmaligen Erhebung zu dem Phänomen vor fünf Jahren hatte die japanische Regierung zwar noch 696 000 Hikikomori im Land geschätzt. In der neuen Erhebung wurden betroffene Menschen, die älter als 40 Jahre sind, jedoch nicht berücksichtigt. Und genau hier sehen Fachleute in Japan ein immer größeres Problem.

Mobbing führt zur Isolation

Das Phänomen an sich ist zwar nicht neu, doch im Zuge der rasanten Überalterung der japanischen Gesellschaft, die in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt so schnell verläuft wie in keinem anderen Industrieland, würden nun auch die Hikikomori zunehmend älter, warnen Experten. «Die Leute, die ich vor etwa 20 Jahren beraten habe, sind jetzt über 40», erklärt Naoki Abe, Berater einer Hilfseinrichtung für Betroffene und deren Familien in der Provinz Iwate. Viele Hikikomori seien weiterhin auf ihre inzwischen 70 oder 80 Jahre alten Eltern angewiesen und lebten von deren Rente. Viele seien gar nicht in der Lage, für sich selbst Sozialfürsorge zu beantragen. «Was soll werden, wenn wir nicht mehr sind? Können unsere Kinder überleben?», fragten sich viele der betroffenen Eltern.

Die Gründe, warum jemand zu einem Hikikomori wird, sind vielfältig. «Die meisten haben Probleme in menschlichen Beziehungen erfahren und sind verletzt worden», heißt es bei der nicht staatlichen Hilfsorganisation «Kazoku Hikikomori Japan» (KHJ). Andere seien als Schüler Opfer von Ijime (Mobbing) geworden, ein in Japan weit verbreitetes Problem, nicht nur an Schulen, sondern auch in Unternehmen. Andere fühlen sich dem hohen Erwartungsdruck der Gesellschaft nicht gewachsen oder haben wirtschaftliche Probleme, die sie in die Isolation treiben. In der heutigen Gesellschaft sei es leicht, Hikikomori zu bleiben, weil es das Internet gebe, so die KHJ. «Die Leute können zu Hause bleiben und mit der «Außenwelt» über das Internet verbunden sein.» Viele kämen aus der Lage nicht mehr raus.

Hikikomori werden älter

Zwar gebe es inzwischen vielfältige Hilfsangebote für Betroffene und ihre Familien. Auch beginne die Gesellschaft endlich, das Problem der älter werdenden Hikikomori zu erkennen, erklärt Rika Ueda, Generalsekretärin der «Kazoku Hikikomori Japan»-Hilfsorganisation. Doch beklagt ihre Organisation, dass Hikikomori in der Gesellschaft Japans noch immer stigmatisiert würden. Zudem sei die Unterstützung der lokalen Regierungen unterschiedlich und nicht immer ausreichend. Viele betroffene Familien versuchten gegenüber ihrer Umwelt zu verbergen, dass jemand in ihrer Familie zu einem Hikikomori geworden sei. Solche Familien schämten sich und würden das Problem für sich behalten, statt sich Hilfe zu holen, beklagt Otochika Ichikawa.

Das führe dazu, dass die Hikikomori immer länger in ihrer Isolation verharrten, manche 10, 20 und noch mehr Jahre. «Wenn Hikikomori erstmal über 40 Jahre alt sind, dann ist es sehr schwierig. Diese Menschen haben ein sehr geringes Selbstwertgefühl», erzählt der 70-Jährige. Ichikawa sieht ein großes Problem in der Veränderung der japanischen Gesellschaft, in der es kaum noch Familien gebe, wo noch mehrere Generationen unter einem Dach leben. Hinzu komme die Anonymität der modernen Großstädte, wo man nicht mal mehr den Nachbarn nebenan kenne. Viele Kinder solcher «Kernfamilien» hätten heute niemanden mehr, an den sie sich mit Problemen wenden könnten.

Späte Rettung

Ichikawas eigene Tochter ist inzwischen 39 Jahre alt, ist verheiratet und hat selbst ein Kind. Sie lebe heute «fast normal», erzählt Ichikawa, der sich aufgrund seiner schmerzhaften Erfahrungen in seiner eigenen Familie heute für andere Hikikomori und deren Familien einsetzt und eine Hilfsorganisation in Tokio leitet. Seine Tochter habe heute Kontakt zu anderen Menschen, zu Eltern von Mitschülern ihres Kindes oder auch zu Nachbarn. Inzwischen weiß Ichikawa auch, was damals wohl dazu geführt hatte, dass seine Tochter die Schule verweigerte und jahrelang Hikikomori war. «Erst viel später erzählte sie uns, dass sie gemobbt worden war», erzählt der ältere Herr.