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Von der Kindgöttin zur Studentin

Von der Kindgöttin zur Studentin
(Narendra Shrestha)

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Fast zehn Jahre lang hat die Nepalesin Chanira Bajracharya als Kindgöttin gelebt. Der Übergang ins normale Leben fiel ihr schwer.

Es ist nicht allzu lange her, da wurde Chanira Bajracharya in Nepal noch als Göttin verehrt. Heute macht die 21-Jährige einen Master in Betriebswirtschaft – sie studiert in Kathmandu und will später einmal für eine Bank arbeiten. Ihre Geschichte handelt von einem religiösen Kult. Und einem Übergang ins normale Leben, der nicht immer leicht war.

Bajracharya war kaum sechs Jahre alt, als sie im April 2001 von Hindu-Priestern als sogenannte Kumari ausgewählt wurde. Diese jungen Mädchen werden als Inkarnationen der Hindugöttin Taleju angesehen und sowohl von Hindus als auch Buddhisten verehrt. Im Kathmandutal gibt es neun solcher Kindgöttinnen. Sie sind Trägerinnen einer jahrhundertealten Tradition. Doch ihr Alltag ist hart.

Eine Kumari lebt entweder im Tempel oder zu Hause, darf ihre Wohnstätte aber nicht verlassen. Jeder Morgen beginnt mit einem ausgiebigen Ritual. Erst wird aufwendiges Augen-Make-up aufgetragen, dann folgen Gebete. Danach empfängt die Kindgöttin zahlreiche Besucher, die um ihren Segen bitten. Als Zeichen der Ehrfurcht berühren manche ihrer Anhänger die Füße der Göttin mit ihrer Stirn.

Beim Jatra Festival zum Ende der Regenzeit wird sie auf einer Sänfte durch die Straßen der antiken Königsstadt Lalitpur südlich von Kathmandu getragen, wo Tausende von Gläubigen und maskierten Tänzern die Hindugöttin Taleju verehren. Eine Kindheit sei das nicht, finden Kinderrechtler.

Antike Königsstadt Lalitpur

«Letzten Endes ist die Kindgöttin ein Kind. Sie sollte nicht auf eine Art und Weise behandelt werden, die sich negativ auf ihre Psyche auswirken könnte», sagt Gauri Pradhan, ein ehemaliger Gesandter der nationalen Menschenrechtskommission. Dennoch wolle er die Tradition nicht abschaffen. Die Behörden sollten aber die Situation der Kumari verbessern. «Sie müssen ihr erlauben, mit ihren Freunden zu spielen und ihre Eltern regelmäßig zu sehen», sagt Pradhan.

Eine Petition zur Abschaffung der Kumaris war bereits 2005 bei Nepals Oberstem Gericht eingereicht worden, sie scheiterte aber drei Jahre später. Stattdessen wies das Gericht die Regierung an, das traditionelle Regelwerk rund um die Kindgöttinnen zu reformieren.

«Das ist kein Kindesmissbrauch»

«Das ist kein Kindesmissbrauch», sagt die Kulturwissenschaftlerin Chunda Bajracharya von der Universität Tribhuvan, die trotz des gemeinsamen Nachnamens keine Verwandte der ehemaligen Kindgöttin Chanira Bajracharya ist. Die Mädchen dürften zu Hause auch spielen, betont sie. «Es zeigt vielmehr, dass unsere Kultur seine Kindheit würdigt, indem sie dem Mädchen göttliche Macht verleiht. Und in ein paar Jahren ist es wieder frei.» Die Tradition eine die Kultur.

Das sieht auch die ehemalige Kindgöttin selbst so. «Wir helfen, unsere Kultur zu bewahren. Die Leute reden negativ darüber, aber die Tradition hat so viele gute Seiten, einschließlich ihrer Anziehungskraft für Touristen», sagt sie. Sie fordert aber höhere Renten und bessere Ausbildungsmöglichkeiten für ehemalige Göttinnen.

Kinderrechtler und einige der Eltern von Kumaris setzten sich bereits seit Anfang der 2000er dafür ein, dass die Mädchen zu Hause unterrichtet werden dürfen und so eine Ausbildung erhalten. Bajracharya war eine der ersten, die von den Veränderungen profitierte. Im Alter von 15 Jahren legte sie im März 2010 die Prüfungen der zehnten Klasse ab. Als ein halbes Jahr später die Pubertät bei ihr einsetzte, endete mit ihrer Kindheit auch ihr Leben als Göttin. Aber der Übergang ins normale Leben fiel der damals 16-Jährigen schwer. Schon das Verlassens ihres Hauses in Lalitpurs Stadtteil Gabahal war eine Herausforderung, erzählt sie.

Zu Fuß auf der Straße

«Ich musste zu einem nahegelegenen Tempel gehen. Dabei war ich das letzte Mal vor neun Jahren zu Fuß auf der Straße unterwegs gewesen und war es nicht mehr gewohnt. Ich wünschte, es hätte mich jemand auf meiner Sänfte getragen», erinnert sie sich. Mit der Hilfe ihrer Eltern – einem Maler und einer Hausfrau – lernte sie wieder, längere Strecken zu Fuß zu gehen. Aber auch der Umgang mit Gleichaltrigen fiel ihr schwer, als sie erstmals eine Schule besuchte.

«Meine Freunde in der Schule sagten, dass sie mich sehr zurückhaltend fanden und unwillig, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Vielleicht lag das an meinen Erfahrungen aus der Vergangenheit», sagt Bajracharya – noch immer eine schüchterne junge Frau, die gerne Romane auf Nepalesisch liest. Vor ein paar Jahren hätten ihre Lehrer ein anderes stilles Mädchen gefunden, mit dem sie sich anfreunden sollte. Anfangs habe sich das erzwungen angefühlt. Doch mit der Zeit seien die beiden beste Freundinnen geworden.

Bajracharya sagt, sie hätte sich mehr Hilfe beim Übergang ins normale Leben gewünscht. Bereut habe sie ihre Zeit als Göttin aber nie. «Ich habe großes Glück, zwei Leben zu haben – eines als Kindgöttin und ein anderes als normaler Mensch. Darauf bin ich sehr stolz.»