In der „Maison du savoir“ im 18. Stockwerk, also ganz oben, sitzt der Kopf der Universität Luxemburg, Rektor Jens Kreisel (54). Er wirkt gut gelaunt: „Der Tag hat mit interessanten Gesprächen begonnen, das motiviert.“ Von seinem dezent eingerichteten Büro aus hat er alles im Blick. Land, Leute und Universität. Belval liegt ihm im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen. 2018 wurde er Vizerektor, seit Januar dieses Jahres ist er Rektor.
Tageblatt: Als die Uni 2003 offiziell gegründet wurde, begann eine lange gärende Idee, Form anzunehmen. Wie sehen Sie diese Anfangsjahre?
Jens Kreisel: Ich denke, dass das eine wunderbare Entscheidung des Landes war. Ähnliche Entscheidungen wurden auch in anderen Regionen Europas getroffen, insbesondere jenen, die in einem industriellen Umstrukturierungsprogramm waren, insofern war das eine richtige Entscheidung für den Strukturwandel. Wir hatten Glück, dass es einige Leute gab, die richtig mutig waren, eine langfristige Vision hatten und den festen Willen, diese umzusetzen.
Es gab damals Bedenken, ob Luxemburg denn wirklich eine eigene Universität brauche oder ob es nicht besser wäre, wenn Luxemburger im Ausland studieren. Wie sehen Sie das?
Vorteil einer eigenen Universität im Land ist es natürlich, zukünftigen Studenten etwas anzubieten, besonders jenen, die aus Luxemburg stammen und dort bleiben möchten. Vor allem aber ermöglicht eine eigene Universität es, Studenten aus dem Ausland anzuziehen, also Talente nach Luxemburg zu führen. Ich möchte aber auch hinzufügen, dass unsere Bachelorprogramme standardmäßig ein Auslandssemester vorsehen. Dadurch wird eine internationale Erfahrung der Studenten gewährleistet.
Wurden damals die richtigen Weichen gestellt?
Von mehreren wichtigen Entscheidungen, die gefällt wurden, war ja die erste, dass die Universität nicht nur technologisch, sondern auch humanwissenschaftlich orientiert sein soll. Das war eine gute Entscheidung, die es uns heute erlaubt, ganzheitliche gesellschaftliche Fragen anzugehen.
Wenn Sie damals hätten entscheiden können, wäre Belval Ihre erste Wahl gewesen oder eher ein Standort nahe der Hauptstadt?
Wie ich damals entschieden hätte, kann ich nicht sagen. Ich sehe natürlich, dass der Campus noch jung ist und an Leben gewinnen kann. Ich sehe aber auch, dass der Campus sich sensationell entwickelt hat, es ist noch nicht alles perfekt, aber es ist bereits viel passiert. Wir haben ja auch zwei Standorte nahe der Hauptstadt, Kirchberg und Limpertsberg, mit einem Drittel unserer Studenten. Der größte Teil ist aber auf Belval.
Hätten Sie vielleicht sonst etwas anders gemacht?
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass die Gründer der Universität dafür gesorgt haben, dass wir heute sehr gut dastehen. Es wurde der richtige Grundstein gelegt. Rektor Rolf Tarrach wusste damals, worauf es ankommt, was international wichtig ist. Er wusste, wie man Exzellenz definiert, die Qualität der Lehre(r) und er wusste eben, dass die Verbindung zwischen Technologie und Naturwissenschaften sowie Sozial- und Humanwissenschaften wichtig ist. Ich habe da nichts zu kritisieren.
Wie würden Sie heute die Entwicklung der Universität in den letzten 20 Jahren allgemein beschreiben?
Die Universität hat sich schneller entwickelt, als man das hätte erwarten können. Bereits nach 20 Jahren hat sie einen guten internationalen Ruf, in vielen Fach- und Forschungsgebieten wird ihr Exzellenz attestiert. In internationalen Rankings ist sie sehr gut positioniert. Und sie ist dabei, sich weiterzuentwickeln. Das übertrifft die Erwartungen. Auch was Studenten und Lehrer, ihre Zahl und Qualität, anbelangt, sind wir über dem, was erreicht werden sollte, hinaus. Ich persönlich würde mich freuen, wenn wir noch mehr Partner der Gesellschaft seien, noch mehr sichtbarer in der Gesellschaft wären, wenn wir noch mehr zur demokratischen Debatte beitragen könnten.
Was sich jetzt insbesondere in den letzten fünf Jahren stark geändert hat, ist die Zusammenarbeit mit industriellen Partnern. Das hat schneller Fahrt aufgenommen, als man gedacht hat. Das liegt daran, dass wir im Bereich der Technologien Expertise entwickelt haben und deswegen international als ernst zu nehmender Partner angesehen werden.
Was ergibt sich daraus?
Beispielsweise, wenn diese Partnerschaft in einer Stiftungsprofessur mündet. Wir haben eine Stiftung mit ArcelorMittal, mit SES und mit Paul Wurth im Bereich der Wasserstoffwirtschaft. Das sind ganz gute Partnerschaften, die jetzt bereits seit vielen Jahren funktionieren. Wir haben andere Stiftungsprofessuren in der Diskussion. Das sind ganz konkrete Instrumente, um mit Firmen eng zusammenzuarbeiten. Die Studenten gehen in die Firma, unsere Leute machen da ihre Doktorarbeiten. Das ist sehr konkret und zeigt einfach das Vertrauen, das die Industrie in uns setzt.
Forschungsorientiert, international und mehrsprachig sein, Talente für das Land gewinnen sowie Hochschulbildung in Bereichen anbieten, die für Luxemburg und die Gesellschaft von Interesse sind – so sollte die Universität das Land langfristig auf seinem Weg zur Wissensgesellschaft unterstützen. Ist sie diesem Anspruch bis heute treu geblieben?
Das ist immer noch unser Motto. Wir haben den Anspruch einer internationalen Exzellenz, wollen auch einen lokalen Einfluss haben. Ich freue mich ganz besonders, wenn wir dazu beitragen können, auch internationale Industrielle nach Luxemburg zu bringen. Beispiel dafür sind die Gespräche auf Regierungsebene mit Google. Da geht es auch darum, dass man gemeinsam mit der Universität Forschungsstrukturen im Bereich der Künstlichen Intelligenz aufbaut. Ich denke, dass wir als Uni da mit zum Standortvorteil beitragen.
Ist die Mehrsprachigkeit ein Problem?
Wir sind wie das Land: multikulturell und mehrsprachig. Mit allen Vorteilen und Herausforderungen, die das mit sich bringt. Im Bereich des Bachelors wird viel in den Landessprachen gemacht, auf Deutsch und Französisch und teilweise auch Luxemburgisch. Im Master und besonders in der Doktorandenausbildung bekommt das Englische mehr Gewicht, weil viele internationale Studenten da sind. Mag sein, dass einige nicht kommen, weil es für sie zu herausfordernd ist. Ich denke, dass aber gerade diese Herausforderung für die meisten Studenten eine gute Sache ist. Auch für die Uni – davon bin ich überzeugt – ist das Multilinguale ein Vorteil gegenüber anderen Ländern. Wir können andere Antworten liefern. Aber, um es deutlich zu sagen, wir werden keine englischsprachige Universität, wir sind und bleiben eine mehrsprachige Universität, weil wir denken, dass das eine Stärke ist und ein Merkmal, das uns von anderen Universitäten unterscheidet.
Wir sind einer der größten Arbeitgeber des Landes
Die Universität sei gut aufgestellt, sagen Sie. Sie sei ein strategischer Partner des Landes bei seiner Zukunftsgestaltung. Werden Sie als Rektor denn auch gehört und um Rat gebeten? Nicht nur von der Industrie, sondern von Politik und Gesellschaft?
Als Rektor habe ich seit Anfang des Jahres sehr viele Gespräche geführt mit Leuten aus der Industrie, Politik und Gesellschaft. Ich habe den Eindruck, dass die Qualität der Uni sehr geschätzt wird und auch wahrgenommen wird, was wir als Beitrag liefern. Wir sind ja kein kleiner Laden. Wir sind einer der größten Arbeitgeber des Landes. Es arbeiten ja nicht nur Wissenschaftler und Akademiker bei uns, sondern viele verschiedene Berufsgruppen, die für den guten Ablauf des Betriebs der Uni zuständig sind. Wir haben die geballte Kraft der Kompetenz von 300 Professoren. Interessant in dem Kontext ist, dass wir 6.000 Studenten haben, davon 1.000 Doktoranden. Wir haben also quasi einen Professor pro 20 Studenten. Das ist eines unserer Hauptmerkmale. Wir sind eine personalisierte Universität. Bei uns sind Studenten nicht nur eine Nummer, bei uns haben sie auch einen Namen. Das wollen wir unbedingt beibehalten. Wir haben auch 1.000 Benutzer eines Weiterbildungsprogrammes. Die Universität beschäftigt mehr als 2.400 Mitarbeiter. Insgesamt sind auf unseren Campussen 130 Nationalitäten auszumachen.
Ein solch großer Betrieb bedeutet Verantwortung und verlangt nach Managementqualitäten …
In den verschiedenen Arbeitsbereichen ist alles gut organisiert. Meine drei Vizerektoren und ich haben uns die Arbeit aufgeteilt. Zudem haben wir einen administrativen Direktor. Zu erwähnen ist auch unsere dezentrale Struktur: Wir haben drei Campusse, drei Fakultäten und drei fachübergreifende Zentren. Dort trägt jeder der Direktoren einen Teil der Verantwortung und entscheidet über seine Herangehensweise.
Kleiner Scherz am Rande: Über dreilagiges Toilettenpapier muss der Rektor also nicht entscheiden.
Nein, das muss ich zum Glück nicht, auch wenn es mich persönlich interessiert (er lacht, was er nicht selten während unseres Gesprächs tut).
Zum 1. Januar 2024 soll nun das in Kirchberg ansässige Max-Planck-Institut Luxemburg in die Universität überführt werden. Was bedeutet das konkret?
Max-Planck-Institute sind Orte der wissenschaftlichen Exzellenz in einem ganz bestimmten Themenbereich. In Luxemburg ist das im Bereich Jura. Wir möchten diese Exzellenz natürlich gerne weiterführen, wir möchten insbesondere das Thema Europarecht an der Universität stärken, wir möchten einen noch größeren Bezug zum Europastandort Luxemburg herstellen. Wir werden vom Institut das Gebiet des Prozeduralrechts übernehmen, wir wollen aber auch neue Themenschwerpunkte setzen. Bezüglich der neuen Direktion sind noch einige formale Fragen zu beantworten. Fest steht aber, dass das Max-Planck-Institut in seinem Gebäude auf Kirchberg bleiben wird. Dort sind sie ja auch in direkter Nähe zur juristischen Fakultät und zur Bibliothek. Wir versuchen, größtmögliche Synergien zu schaffen.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass die Universität Luxemburg auf einem soliden Sockel steht und zukunftsorientiert agiert. Wie sieht die Zukunft – die nahe und fernere – denn nun aus? Was wünscht der Rektor sich?
Die Universität muss weiter ehrgeizig bleiben. Sie hat sich in 20 Jahren gut entwickelt, nun müssen wir den nächsten Schritt tun, um noch sichtbarer zu sein. Deshalb haben wir entschieden, uns nicht nur rein disziplinär aufzustellen, sondern wollen größere gesellschaftliche Probleme mehr in den Vordergrund stellen. Digitale Transformation, Gesundheit, Nachhaltigkeit. Wir möchten deshalb noch interdisziplinärer zusammenarbeiten. Was bedeutet zum Beispiel die digitale Transformation sowie die Künstliche Intelligenz (KI) für die Gesundheit? Was ist die ethische Nachhaltigkeit der KI? Was ich mir wünsche, ist, innerhalb dieser großen Themen, dass die Universität zu einem noch interessanteren Partner wird – national und international und dass wir unsere Ambitionen in ganz konkreten Projekten zeigen können. Zum Beispiel die konkrete Medizinerausbildung, die Schaffung eines neuen Zentrums systemischer Umweltwissenschaften, die Schaffung eines Zentrums für digitale Ethik. Wir wollen die großen Themen mit konkreten Instrumenten angehen. Auch das neue Südkrankenhaus wird uns neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit erlauben. Das sehen wir als große Herausforderung im Bereich der Forschung und der Lehre im Bereich Gesundheit. Eine unserer Prioritäten ist es, Talente anzuziehen und im Land zu behalten. Wir wollen Luxemburg besser und kompetenter machen.
Und auch das Leben am Campus Belval soll weiterentwickelt werden?
Es geht in die richtige Richtung. Man muss was draus machen. Ich bin aber überzeugt davon, dass jemand, der einmal hier war, den Campus nicht vergessen wird. Diesen nachhaltigen Eindruck, den vor allem die Hochöfen in Belval prägen, würde ein Campus in der Stadt nicht unbedingt so hinterlassen. Hier ist es etwas ganz Besonderes.
Seit elf Jahren leben Sie in Luxemburg. Alles gut?
Wir sind gekommen, um zu bleiben. Alles ist gut. Ich habe 15 Jahre in Grenoble gelebt, ja, die Berge vermisse ich manchmal, aber die Lebensqualität in Luxemburg weiß ich wirklich sehr zu schätzen.
Zur Person
Jens Kreisel ist seit dem 1. Januar 2023 Rektor der Universität Luxemburg. Ab 2018 war er Vizerektor. 1969 in Dortmund geboren, studierte er Physik in Deutschland und Frankreich. In Grenoble promovierte er 1999 in Materialwissenschaften. Ab 2013 lehrte er am „Luxembourg Institute of Science and Technology“ (LIST). Seit elf Jahren lebt er mit seiner Familie in Luxemburg. Kreisel wird Luxemburg im Prinzip noch länger erhalten bleiben. Zwei Mandate à fünf Jahren sind in dem Bereich üblich. Theoretisch also bis 2033. Noch viel Zeit, um uns demnächst wieder mal mit ihm zu unterhalten.
20 Years of Ideas
Anlässlich ihres Jubiläums organisiert die Universität noch bis zum 29. Februar 2024 eine öffentliche Vortragsreihe zu vielfältigen Themen. Von Fintech zu öffentlichem Recht, von Künstlicher Intelligenz bis zum Wohnungsmarkt, von Biomedizin zu digitaler Geschichte, von digitaler Ethik zur inklusiven Finanzwirtschaft und vielem mehr: Forscher aus unterschiedlichen Fachgebieten präsentieren Ergebnisse und Lösungen für die Welt von morgen. Weitere Informationen unter uni.lu.
Wie alles begann
Forschung und Lehre auf Hochschulniveau hat es in Luxemburg natürlich auch schon vor der Gründung der Universität gegeben. Die Ingenieursausbildung am „Institut supérieur de technologie“ (IST) zum Beispiel, oder das „Centre universitaire de Luxembourg“ mit Geistes- und Humanwissenschaften sowie die Ausbildung der Grundschullehrer oder graduierten Erzieher. Die Universität Luxemburg ersetzt diese Einrichtungen heute. Heute gibt es dort eine Fakultät für Naturwissenschaften, Technologie und Medizin, eine Fakultät für Recht, Wirtschaftswissenschaften und Finanzwirtschaft sowie eine Fakultät für Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften.
Im Jahr 2005 wurde der erste vierjährige strategische Rahmen vorgestellt und Belval – damals ein industrielles Urbanisierungsprojekt – zum künftigen Hauptsitz und Hauptcampus bestimmt. 2009 wurden zwei interdisziplinäre Forschungszentren gegründet, das „Interdisciplinary Centre for Security, Reliability and Trust“ (SnT) und das „Luxembourg Centre for Systems Biomedicine“ (LCSB). 2016 wurde das dritte Forschungszentrum eingeweiht, das „Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History“ (C²DH). Weitere Forschungszentren sollen 2024 folgen.
2012 wurde der Rahmen für die Doktorandenausbildung genehmigt. Heute verfügt die Universität über vier Doctoral Schools: in Rechtswissenschaften, Naturwissenschaften und Technik, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie in Wirtschaft, Finanzen und Betriebswirtschaft.
2015 ziehen der Campus Limpertsberg und Campus Walferdingen zum neuen Hauptcampus nach Belval um.
2018 wird die Universitätsbibliothek, das „Luxembourg Learning Centre“, auf Belval eingeweiht. Im September 2020 startete das lang erwartete Medizinstudium mit dem Bachelor in Medizin. (Quelle: uni.lu)
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