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Die iranische Revolution geht weiter – zwischen Hoffnung und Resignation

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Der Tod von Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam am 16. September 2022 löste im Iran eine Welle des Protests aus. Wie auch auf frühere Aufstände antwortete das Mullah-Regime mit massiver Repression. Zurzeit besteht nur wenig Hoffnung auf einen politischen Wandel.

Eine Frau steigt in ein Taxi. Doch das Auto fährt nicht los. Ein Mann kommt heran und öffnet die Hintertür. Aus dem Auto sind Schreie zu hören. „Der Taxifahrer hat die Passagierin aufgefordert, sein Taxi zu verlassen, weil sie keinen Hidschab trägt“, erklärt mir Varqa Naderi. Auf dem Video, das der in Luxemburg lebende iranische Fotograf mir zeigt, sieht man, wie der Chauffeur aussteigt, die andere Hintertür öffnet und die Frau aus dem Wagen zerrt. Diese gibt jedoch nicht nach und brüllt unaufhörlich auf ihn ein, während der zweite Mann zuschaut. Der Taxifahrer schlägt auf die Frau ein. Sie geht zu Boden. Das Video endet.

„Beide Männer in dem Video sind Basidschi“, erklärt mir Varqa. „Sie gehören der Basidsch-e Mostaz’afin an und vertreten den Machtapparat.“ Er meint damit die Angehörigen einer aus Freiwilligen bestehenden Miliz des iranischen Regimes, die 1979 im Zuge der Islamischen Revolution durch einen Erlass von Revolutionsführer Ajatollah Ruhollah Chomeini gegründet worden war. Im Ersten Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran (1980-1988) wurden die Basidschis unter anderem als Minenräumer eingesetzt. Eigentlich heißt ihre Organisation übersetzt „Organisation zur Mobilisierung der Unterdrückten“ und gilt als Abteilung der Revolutionsgarde als eine der Säulen des Regimes. „Die Basidschis sind mit vielen Privilegien ausgestattet“, sagt Varqa. Dazu gehören unter anderem die Ausnahme von der Wehrpflicht und eine gewisse Jobsicherheit sowie Studienplätze, Stipendien und Gratispilgerfahrten. Ihre Aufgabe während der Proteste war es, Demonstranten zu schikanieren und zu misshandeln.

Die Schläger Gottes

Die Aufgaben der Schläger Gottes haben sich mittlerweile etwas verlagert. „Heute gehen die Basidschis subtiler vor“, sagt Varqa. „Frauen werden zum Beispiel am Eingang einer U-Bahnstation darauf aufmerksam gemacht, den Hidschab zu tragen. Wenn sie dieser Aufforderung nicht Folge leisten, dürfen sie erst gar nicht mitfahren. Dagegen kommt es heute weniger häufig vor, dass Frauen auf offener Straße verhaftet werden, wenn sie keinen Hidschab tragen. Seit dem Beginn des Aufstands hat sich zumindest eines verändert: Etwa 30 bis 40 Prozent der Frauen im Iran tragen keinen Hidschab mehr.“

Auch waren die berüchtigten Sittenwächter eine Zeitlang von den Straßen verschwunden. Sie hatten am 13. September 2022 Jina Mahsa Amini angehalten, weil ihr Hidschab angeblich nicht richtig saß. Die knapp 23-jährige Kurdin wurde gewaltsam in ein Polizeiauto gedrängt und auf eine Wache gebracht. Laut Zeugenaussagen wurde sie mehrfach geschlagen. Nach einem Krankenhausbericht erlitt sie ein Schädel-Hirn-Trauma und lag zweieinhalb Tage im Koma – bis sie am 16. September für tot erklärt wurde. Danach lehnten sich Frauen im ganzen Land gegen das Regime auf. Sie gingen auf die Straße, skandierten unter anderem den Slogan „Jin, Jiyan, Azadi!“ respektive „Zan, Zendegi, Azadi!“ („Frau, Leben, Freiheit“) und legten ihr Kopftuch ab. Viele schnitten sich aus Protest die Haare ab. Weltweit gab es Solidaritätsdemos, auch in Luxemburg. Und hierzulande wie in anderen Ländern wurde zum Jahrestag des Todes von Jina Mahsa Amini der jungen Frau gedacht.  

„Es gab im Iran alle paar Jahre Aufstände, die jedoch immer wieder niedergeschlagen wurden“, sagt Varqa, „aber diesmal dachte ich, das Regime könnte gestürzt werden.“ Varqa stammt aus Shiraz, einer Millionenstadt im Süden des Irans. Zusammen mit seiner Frau Shiva gründete er ein eigenes Fotostudio mit etwa 30 Beschäftigten. Weil sie der Bahai-Glaubensgemeinschaft angehören, wurden die beiden vom Staat systematisch diskriminiert und schikaniert. Das Ehepaar landeten sogar für acht Monate im Gefängnis. Varqa musste die Haft zusammen mit etwa 20 anderen Männern in einer Zelle von zwölf Quadratmetern verbringen. „Shiva und ich durften uns einmal im Monat für zehn Minuten treffen“, sagt er. Nach ihrer Freilassung verließen sie das Land und kamen über die Türkei nach Europa. Seither leben sie in Luxemburg. Sie haben wieder ein Fotostudio. Ihr Sohn wächst im Großherzogtum auf. Varqa weiß, dass es ihnen auf lange Sicht nicht möglich ist, in die Heimat zurückzukehren, doch fühlen sich beide dem Iran noch eng verbunden.

Depression als Folge der Repression

Mittlerweile ist die Protestbewegung zwar nicht ganz zum Erliegen gekommen, aber zumindest etwas ausgedünnt. „Die meisten Menschen befinden sich in einer Depression – wegen der psychischen Folgen der Repression, aber auch wegen der atemberaubenden Wirtschaftskrise, für die sie – zu Recht – das Regime verantwortlich machen“, schreibt die deutsch-iranische Publizistin Golineh Atai. „Und doch ist die Revolte keineswegs beendet, im Gegenteil: Wir befinden uns mitten in einer Art sanftem Krieg, einer andauernden Revolution der Werte und Mentalitäten, bei der keineswegs ausgemacht ist, dass das Regime am Ende obsiegen wird.“ Die 49-Jährige weiß, dass das Regime nur noch mit der Anwendung von Gewalt überleben kann, indem es politische Gefangene exekutiert oder protestierende Schulmädchen vergiftet. Der Hidschab ist ein Symbol des Regimes, und ihn abzunehmen ein Symbol des Protestes.

Der Aufstand hatte bisher nie gekannte Ausmaße angenommen: Ausgegangen war er von den Frauen, doch viele Männer solidarisierten sich und stellten sich schützend dazwischen, wenn Frauen aufgrund ihres Protestes gegen den Hidschab auf der Straße von der Staatsgewalt bedroht wurden. Ärzte und Schauspielerinnen schlossen sich an, Lehrer, Arbeiter, Rentner, Ladenbesitzer und Sportler wie etwa die Fußballnationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Katar. „Der neue Kaveh ist eine Frau“, sagte der Ex-Profi des FC Bayern München, Ali Karimi. In der altiranischen Mythologie ist Kaveh ein Schmied, der gegen den fremden Eindringling und den Tyrannen Zahak kämpft. Vielfältige Protestformen seien zur neuen Normalität geworden, erklärt Golineh Atai. Die Autorin des Buches „Iran – Die Freiheit ist weiblich“ beobachtet einen „zivilisatorischen Wandel“. Die „Hoffnung auf unseren Sieg“ halte die Menschen aufrecht.

Die deutsch-iranische Publizistin Golineh Atai
Die deutsch-iranische Publizistin Golineh Atai Foto: Joanna Vortmann

Auch Varqa stellt fest, dass sich die grundlegenden Werte und Lebensvorstellungen der Gesellschaft seit einigen Jahren verschoben haben. „Viele junge Leute sind nicht mehr so gläubige Muslime wie einst ihre Eltern“, sagt er. Der Mullah-Staat im vermeintlichen Dienste Allahs ist für sie fremd geworden. Doch wo ist die Hoffnung der ersten Monate geblieben? Zwar gibt es nach wie vor Proteste in verschiedenen Ländern. So erinnerten etwa iranische Studenten der Universität Luxemburg Ende Juni und auch kürzlich zum Jahrestag von Jina Mahsa Aminis Tod an die Situation in ihrer Heimat. Doch die Situation dort ist schwieriger geworden. Die Regierung hat die Strafen erhöht: Taxifahrer etwa verlieren ihren Führerschein, wenn sie Unverschleierte mitnehmen. Laut Agenturmeldungen sollen künftig drakonische Strafen bei Verstößen gegen die Kopftuchpflicht gelten. Dazu gehören Haftstrafen von bis zu 15 Jahren und Geldstrafen von mehr als 5.000 Euro. Prominenten drohen Berufsverbote von bis zu 15 Jahren. Auch soll ein Zehntel des Vermögens beschlagnahmt werden.

„Das Regime versucht, seine Macht zu konsolidieren“, sagt Varqa. Er nennt mehrere Gründe dafür, dass der revolutionäre Funke des vergangenen Jahres zu erlöschen droht. Einer davon sei, dass es keine starke und einigende Oppositionsbewegung gibt, wie etwa zur Zeit des Arabischen Frühlings in Nordafrika, erklärt der iranische Fotograf. Die einen wollen einfach nur den Sturz der Mullahs, andere haben konkrete Vorstellungen und wollen, dass zum Beispiel der Sohn des letzten, 1979 geschassten Schahs, Reza Pahlavi, an die Macht kommt. Die meisten Iraner aber haben mit einer Monarchie nichts im Sinn. Golineh Atai erinnert an Treffen, zu denen unter anderem die im britischen Exil lebende Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi ebenso kam wie der Gründer der kurdischen Komalah-Partei, Abdullah Mohtadi, sowie die Schauspielerinnen Nazanin Boniadi und Golshifteh Farahani, aber auch der designierte Kronprinz Reza Pahlavi. „Eigentlich eine ideale Plattform“, meint Golineh Atai, „doch bereits im April war sie Geschichte.“ Hinzu kommt, dass es keine prominenten staatlichen Überläufer gegeben habe. „Auch wenn in mehreren Leaks aus vertraulichen Unterredungen beim Obersten Führer bekannt wurde, dass unter den Sicherheitskräften Unzufriedenheit und Inkompetenz nicht selten seien“, so die Autorin, „ist das Regime offenbar immer noch fähig, Loyalität in den Sicherheitsstrukturen zu erzeugen.“

Mafiöser Staat und ökonomischer Ruin

Auch wenn die Mullahs das Land ökonomisch ruiniert haben: Sie haben ein mafiöses System mit Verbindungen zu den höchsten Stellen errichtet, das auf einer Untergrundwirtschaft aufbaut, die wiederum von mächtigen Interessengruppen gefördert wird, erklärt der ARD-Journalist Ali Sadrzadeh, der 1979 die Islamische Revolution erlebte. Während die westlichen Staaten internationale Sanktionen gegen den Iran verhängten, blühte dort mehr und mehr die Schattenwirtschaft, die vor allem aus Schmuggelwesen besteht. Vor 1979 hatte der Iran ein höheres Bruttoinlandsprodukt als Südkorea oder die Türkei. Doch die Revolution vernichtete eine ganze Generation von Unternehmen: „Entgegen mancher Annahme, dass sie von der Vetternwirtschaft des Schahs profitierten, stammten die meisten frühen Industriellen aus einfachen Verhältnissen und waren Self-made-Geschäftsleute, die aus der Mittelschicht aufstiegen und etwa die Autoindustrie gründeten“, erklärt die Weltbankökonomin Nadereh Chamlou. Das Potenzial an ausgebildeten Jugendlichen wanderte derweil aus.

Ein weiterer Grund, weshalb sich das iranische Regime an der Macht halten kann, ist die Politik vor allem westlicher Länder, worauf die Politologin Farangiss Bayat hinweist: „Die internationale Beschwichtigungspolitik hat es dem Regime ermöglicht, sich zu erneuern. So hat etwa Belgien einen iranischen Diplomaten ausgeliefert, dem die Planung terroristischer Handlungen vorgeworfen wurde, im Austausch gegen eine Geisel“, schrieb Bayat kürzlich in der Wochenzeitung Die Zeit. „Die USA gewährten dem Iran im Austausch gegen die Freilassung von fünf im Gefängnis sitzenden Geiseln Zugriff auf sieben Milliarden Dollar eingefrorenes Vermögen. Und im Mai 2023 wurde entschieden, dass der Iran den Vorsitz des Sozialforums des UN-Menschenrechtsrats übernehmen soll. Insgesamt beschränkte sich der internationale Umgang mit dem Iran in den letzten Jahren auf Verhandlungen um Atomwaffen und das Atomabkommen JCPOA. Es ist diese Beschwichtigung von außen, die das Regime am Leben hält.“ Die Europäische Union könnte etwa die Islamischen Revolutionsgarden auf die Liste der Terrororganisationen setzen. Doch für die Mullahs wäre dies das Überschreiten einer roten Linie – und das Aus der Atomgespräche.

Dezentraler Aufstand

Zum Jahrestag von Jina Mahsa Aminis Tod riegelte der iranische Sicherheitsapparat deren Heimatort Saghes ab und schüchterte Aminis Familie ein. Ihr Vater wurde vorübergehend festgenommen und verhört. Es kam zu gezielten Verhaftungen, um Proteste zu unterbinden. Protestbewegungen sind wahrlich nichts Neues im Iran: Im Jahr 1999 gingen hauptsächlich die Studierenden auf die Straße, um vor allem gegen die Abschaffung einer regimekritischen Zeitung zu demonstrieren, 2009 protestierte die städtische Mittelschicht der „Grünen Bewegung“ gegen den Wahlbetrug der Regierung, die sogenannten Dej-Proteste von 2017/18 richteten sich gegen die Armut, die extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit und gegen die schlechte Versorgungslage. Dies setzt sich 2019 mit den Novemberprotesten fort, bei deren Niederschlagung mehr als 1.500 Menschen ums Leben kamen. In beiden Fällen gingen Menschen aus der Unterschicht, die als soziale Basis des Regimes gelten, auf die Straße. Die Gefahr für das Regime scheint nie zuvor so groß gewesen zu sein wie diesmal, meint der unter anderem in Berlin lehrende Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad. Schließlich handelte es sich um deutlich mehr und viele dezentrale Demonstrationen, Flashmobs und zivilen Ungehorsam, ohne zentrale charismatische Führungsfigur. Allerdings war die soziale Basis noch nie so breit, auch was die ethnische Zugehörigkeit und regionale Herkunft von Kurdistan bis Belutschistan angeht. Der Aufstand ist klassenübergreifend. Vor allem und ausgehend ist es ein Aufstand der Frauen gegen ihre strukturelle Diskriminierung, der überdurchschnittlich von der Arbeitslosigkeit betroffenen Jugend und marginalisierter ethnischer Gruppen. „Kurzum, das Bewusstsein für einen gemeinsamen Kampf existiert“, konstatiert Ali Fathollah-Nejad.

Der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad
Der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad Foto: Nassim Rad

Momentan scheinen die Machthaber wieder die Oberhand gewonnen zu haben. Die massive Repression mit Zigtausenden von Verhaftungen, Hunderten von Ermordungen, einige davon als Hinrichtungen, „staatlich sanktionierte Tötungen“, wie der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sagte, eine umfassende Internetsperre, die Diffamierung der Proteste als von ausländischen Mächten angezettelt. Doch Ali Fathollah Nejad glaubt, dass der revolutionäre Prozess weitergehen wird. Das Regime sei nicht in der Lage, die Dreifachkrise aus politischer Stagnation und Unreformierbarkeit, sozio-ökonomischer Misere und ökologischen Katastrophen zu meistern. Und er erinnert ausgerechnet an die Islamische Revolution von 1979 und zitiert den damaligen britischen Botschafter in Teheran: „Unser Versagen lag nicht so sehr in der Information als vielmehr in der Vorstellungskraft.“