Es ist ein deutsches Wort und eine deutsche Erfindung. „Spitzenkandidat“ heißt es auf Englisch, „Spitzenkandidat“ auf Italienisch, „Spitzenkandidat“ auf Französisch, wenn EU-Parlamentarier in Brüssel über die Europawahlen im nächsten Juni sprechen. 2014 wurde das Prinzip erstmals eingeführt, um die Wähler mehr an die EU heranzuführen. Devise: Seht her, ihr könnt mit Eurer Stimme direkt beeinflussen, wer an der Spitze der EU-Kommission das Sagen haben soll. Gleich beim ersten Mal klappte es, dass der Spitzenkandidat der christdemokratisch-konservativen EVP, Jean-Claude Juncker, mit seiner Partei vorne lag – und ins Berlaymont, den Sitz der Kommission, einzog. Das will die EVP nun wiederholen. Mit Ursula von der Leyen als ihrer Spitzenkandidatin. Doch es gibt dabei mehr als ein Problem.
Das eine: Sie hat sich immer noch nicht erklärt. Zwar lässt sie nahezu täglich Mosaiksteinchen fallen, die zusammengefügt ein klares Bild von ihrer Bereitschaft ergeben, eine zweite Amtszeit anzustreben, doch von der Leyen macht es nicht amtlich. Anhänger wie Gegner sind sich einig, dass das aus ihrer Sicht die beste Strategie ist. Noch kann sie suggerieren, als Präsidentin über den Strömungen in der Kommission, im Rat und im Parlament zu stehen. Mit dem Tag ihrer offiziellen Ankündigung wäre sie reduziert auf die Kandidatin einer Partei. Allerspätestens sollte das Ende Februar oder Anfang März geschehen, wenn die EVP bei ihrem Kongress in Bukarest über ihre Spitzenkandidatur entscheidet.
Die Ungewissheit macht den Mitgliedern der EVP-Parteienfamilie zu schaffen. Denn auch andere liebäugeln mit einer Kandidatur, würden mit dem Wahlkampf in eigener Sache längst beginnen, wenn klar wäre, dass von der Leyen nicht antritt und also die Chancen für einen von ihnen schlagartig steigen. Denn eine Kandidatin, die den Job schon macht, hat zweifellos Startvorteile gegenüber jedem anderen, der ihn nur anstrebt. Amtsbonus nennt man das.
Hin und Her um die Kandidatur
Deshalb richteten sich alle Blicke auf ein Städtchen in der Lüneburger Heide: In Walsrode legt die niedersächsische CDU am 25. November ihre Landesliste für die Europawahlen fest. Hier würde es vermeintlich zum Schwur kommen, wenn Platz 1 an Ursula von der Leyen geht. Doch die vorbereitenden Gespräche zwischen der Niedersachsen-CDU unter Sebastian Lechner und den Parteifreunden in Brüssel ergaben nach Informationen unserer Redaktion das verblüffende Ergebnis: Von der Leyen tritt in ihrer Heimat nicht an. Alle rechnen damit, dass die Liste von David McAllister angeführt wird, der sich als niedersächsischer Ministerpräsident einen Namen gemacht hat und im Europa-Parlament das einflussreiche Amt des Vorsitzenden im Auswärtigen Ausschusses innehat.
Zugleich häufen sich jedoch die Hinweise, dass von der Leyen gleichwohl entschlossen sei, wieder anzutreten. Auffällig war schon ihr Auftritt Anfang des Jahres bei der CDU in Düsseldorf. Befremden löste ihr Kurzurlaub beim griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis auf Kreta aus. Da dürfte es in den privaten Gesprächen durchaus auch um ihre Chancen gegangen sein, ein zweites Mal vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen zu werden. In ihrer Rede zur Lage der Nation bekräftigte sie zwischen den Zeilen an vielen Stellen, dass in einer zweiten Amtszeit noch genug für sie zu tun sei. Und wenn Unionsleute aus Deutschland den Kontakt suchen, schaufelt sie inzwischen auffällig viel Zeit im Terminkalender der viel beschäftigten Kommissionspräsidentin frei, um sich etwa mit einer regionalen Jugendorganisation ihrer Partei stundenlang auszutauschen.
So wie die Niedersachsen-CDU ohne sie plant, plant deshalb die EVP mit ihr. Aus deutscher Sicht mutet das so an, als wäre Olaf Scholz als Spitzenkandidat bei den Bundestagswahlen angetreten, ohne in den Bundestag zu wollen, Hendrik Wüst als Spitzenkandidat bei den NRW-Landtagswahlen, ohne in den Landtag zu wollen. Doch schon hier gibt es einen rechtlichen Unterschied: Wüst hätte nicht Ministerpräsident werden können, ohne zugleich Abgeordneter zu sein, aber Scholz durchaus Kanzler, ohne im Bundestag zu sitzen. Noch schärfer sind die Bestimmungen auf Europa-Ebene. Hier darf der Kommissionspräsident nicht einmal Abgeordneter sein oder bleiben. Insofern wird in der EVP argumentiert, sie müsse im Fall eines Sieges ihr Mandat eh abgeben, da könne sie auch gleich auf eine Kandidatur verzichten und direkt für die Kommissionspräsidentschaft antreten.
Differenzen mit dem EU-Parlament
Doch im Juni nächsten Jahres wird nicht die Kommission gewählt, sondern das Parlament. Und das hat bei der Besetzung der Kommission das letzte Wort: Wer hier keine Mehrheit bekommt, wird es nicht. Schon beim ersten Mal reichte es für von der Leyen nur knapp – mit gerade mal acht Stimmen mehr als nötig. In vielen Parlamenten ist es üblich, sich erst einmal einen Sitz zu sichern und je nach Ergebnis und Ämter-Perspektive dann einem Nachrücker Platz zu machen. Zudem empfinden viele Abgeordnete, die Von-der-Leyen-Kommission bringe dem Parlament nicht genügend Respekt entgegen, lasse Fristen verstreichen, informiere nur unzureichend und folge Aufträgen spät oder nie. Als Spitzenkandidatin nicht für das Parlament kandidieren zu wollen, würde in dieser Stimmung womöglich als weitere Missachtung empfunden.
Der Wahlkampf in Deutschland könnte das noch deutlicher machen. Derzeit zeichnet sich ab, dass die schon aufgestellten oder absehbaren Spitzenkandidaten der anderen Parteien eines gemeinsam haben: Katarina Barley für die SPD, Terry Reintke für die Grünen, Marie-Agnes Strack-Zimmermann für die FDP, Carola Rackete für die Linken und Maximilian Krah für die AfD wollen ins Parlament gewählt werden. Nur eine nicht: von der Leyen. Und das bei einer Parlamentswahl.
Schon bei den letzten Wahlen vor vier Jahren hießen die aussichtsreichsten Spitzenkandidaten Frans Timmermans für die Sozialdemokraten und Manfred Weber für die Christdemokraten. Und natürlich kandidierten beide auch fürs Parlament. Weber behielt sein Mandat und wurde EVP-Chef, Timmermans gab seines ab und wurde Vize-Kommissionspräsident. Normal, könnte man meinen.
Doch transnationale Listen, die das Parlament bei der nächsten Wahl wollte und die die Namen der Spitzenkandidaten in ganz Europa auf die Stimmzettel gebracht hätten, lehnte der Rat ab. So wäre von der Leyen ohnehin nur in Hannover wählbar, aber weder in Warschau, Paris oder Athen. Und noch einen Punkt haben die EVP-Strategen. Bisher war das neue Spitzenkandidatenprinzip nämlich nur einmal erfolgreich: 2014, als Juncker es schaffte. Auch er hatte eine gleichzeitige Kandidatur fürs Parlament für verzichtbar gehalten.
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