Orte sind für Matthias Nawrat Schnittstellen, an denen sich die Zeiten überkreuzen. „Mit dem Reiseführer in der Hand / stand ich bald auf dem Google-Amazon-Platz[…], der Platz war auf einen älteren gebaut. / Man hatte alle Straßen umbenannt, […] in der Ferne erhoben sich Plattenbauten, / hörte man das Murmeln der Verwandten / und die Zaubersprüche der Alten, / die man seltsam gut verstand“, schreibt Nawrat in dem Gedicht „Der fröhliche Friedhof“. Palimpseste, neu beschriebene Schriftstücke, die in ihrer aktuellen Form von der Vergangenheit erzählen, in denen sich trotz der Ausradierung alter Spuren das Gestern bemerkenswert gut konserviert – so perspektiviert der im polnischen Opole geborene Schriftsteller urbane Landschaften, durch die das lyrische Ich – und mit ihm der Leser – „als Tourist“ und genauer Beobachter streift.
Wie um ein Echo dieser Idee zu erzeugen, beschreibt Nawrat in „Vor dem Fenster, über Nacht“ die plötzliche Entstehung eines neuen Walds mit den Worten „[w]ie kommen all die Arten zueinander, / es wächst das eine übers andere / wie in einer neuen Form von Garten“. Naturräume wie Stadtgebiete reichern sich mit Geschichte an; in ihnen biegt sich die Zeit so, dass sich Vergangenheit und Gegenwart nicht bloß überlagern, sondern auch gegenseitig durchdringen: „Die Geschichte ist eine Treppe, / die im Schneckenhaus / hinabführt. / Von meiner Etage aus höre ich den Stein nicht aufkommen, ich ließ ihn schon vor Ewigkeiten los, und er fällt immer noch […]. Ich trete ins Treppenhaus, / von unten, kein Geräusch, der Stein fliegt immer noch / als fiele er gar nicht nach unten, / sondern nach oben.“
Gedichte als Erinnerungsspeicher
Viele verschiedene Schauplätze gibt es in „Gebete für meine Vorfahren“, Nawrat siedelt das lyrische Geschehen wahlweise in der indischen Stadt Hyderabad, in der Ukraine oder auf den zu einem Touristenhotspot metamorphisierten Solowezki-Inseln an. Figuren sind weniger „die Berühmten wie Spinoza“ als „die Unbekannten wie die Facharbeiterin aus dem Peugeot-Werk in Zaspy“. Nawrat wirft ein Schlaglicht auf das Leben derer, die die Geschichtsschreibung vergessen hat: Mit lakonischer Klarheit spürt er der Sehnsucht bulgarischer Arbeitsimmigranten nach, die „Nachrichten nach Hause“ schreiben, während sie rauchen und auf die Kreuzung schauen, oder tastet sich an die Vorfreude des Bauarbeiters heran, der eine Aufnahme zum zehnten Mal abspielt, während er sich im Stillen auf das zukünftige familiäre Beisammensein freut.
Einmal bezeichnet sich das lyrische Ich als „Suchmaschine für die Toten“, die – dieses Bild kommt einem spontan in den Sinn – die Erinnerung an „jeden einzelnen, der je gelebt hat“, aus dem Vergessen hebt, als ob sie ein Schiffswrack aus den Untiefen des Meeres bergen würde. Nawrats lyrische Miniaturen sind Aufbewahrungsorte von kollektiver Erinnerung, die das Erleben von Arbeitern, Ein- und Auswanderern in den Mittelpunkt stellen: „Mehr können wir nicht machen.“
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