Wenn man von Burg-Reuland aus den Blick über die weite Landschaft schweifen lässt, sieht man große, saftig grüne Wiesen, große Kuhherden – und große Häuser. „Kleine Häuser gibt es bei uns fast gar keine“, sagt Marion Dhur, „jeder hat eine große Parzelle. Wir sind eine arme Gemeinde mit sehr reichen Bürgern.“
Dhur ist die Bürgermeisterin dieser armen Gemeinde, der südlichsten in der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) im Osten Belgiens. Und die sehr reichen Bürger, das sind die Grenzgänger, die in Burg-Reuland leben und jeden Tag über die Grenze nach Luxemburg pendeln, um dort zu arbeiten. Denn Ostbelgien ist eine Grenzregion, im Norden der Großregion, im Herzen Europas. „Wenn es eine Grenzgemeinde gibt“, sagt Dhur, „dann ist es Burg-Reuland. Wir grenzen an drei luxemburgische und zwei deutsche Gemeinden.“
Wenn von Ostbelgien die Rede ist, sind meistens die Gebiete der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens gemeint. Sie bestehen aus dem Kanton Eupen im Norden, mit dem Sitz des Parlaments und der Regierung, und dem Kanton St. Vith im Süden, den fünf Eifelgemeinden, die an Deutschland und Luxemburg grenzen. In der DG leben aktuell etwa 79.000 Einwohner. Ein großer Teil von ihnen arbeitet im Ausland.
Mehr als die Hälfte der Berufstätigen meiner Gemeinde geht nach Luxemburg arbeiten
Knapp 4.600 Ostbelgier pendeln täglich über die Grenze nach Luxemburg. Allein 1.000 dieser Grenzgänger kommen aus Burg-Reuland. Eine Gemeinde mit gerade einmal 4.000 Einwohnern.
„Mehr als die Hälfte der Berufstätigen meiner Gemeinde geht nach Luxemburg arbeiten“, sagt Marion Dhur. Die 51-Jährige sitzt im ersten Stock ihres Büros in der Gemeindeverwaltung Burg-Reuland. Dhur saß für die Christlich Soziale Partei (CSP) im Parlament der DG in Eupen, bevor sie 2017 zur ersten Bürgermeisterin in der DG wurde. Für sie ist die Grenzregion nicht nur Teil ihres Jobs, sondern Teil ihrer Biografie. Dhurs Großvater stammt aus Luxemburg, ihre Großmutter aus Deutschland. Sie selbst hat neben der belgischen auch die luxemburgische Nationalität.
Burg-Reuland grenzt im Osten an Deutschland und im Süden an Luxemburg. Gibt es denn auch Grenzgänger, die nach Deutschland arbeiten gehen? Dhur schüttelt den Kopf. In den angrenzenden deutschen Gemeinden gebe es nicht so viele Arbeitsplätze wie in Luxemburg. Und dann sind da noch die offensichtlichen Gründe: die höheren Löhne und niedrigeren Steuern im Großherzogtum. „Wenn man die Steuerlast sieht“, sagt Dhur, „dann hat sich ein junger Mensch hier sehr schnell entschieden, in welche Richtung es ihn zieht.“
Ist man auf den Straßen von Burg-Reuland und der Nachbargemeinde St. Vith unterwegs, begegnen einem um die Mittagszeit viele Kleintransporter. Weiße Lackierung, auf der Seite das Logo eines Handwerksbetriebs. Fast alle haben sie ein luxemburgisches Kennzeichnen.
„Es gibt sehr viele Unternehmer unserer Gemeinde, die einfach ein paar Kilometer weitergefahren sind und ihre Niederlassung in Luxemburg gemacht haben“, sagt Dhur. Ebenfalls aus Steuergründen. Die Bürgermeisterin sieht das pragmatisch. Das sei halt so, da müsse man eben das Beste daraus machen. „Die Leute hier haben unterm Strich mehr Geld als die, die in Belgien arbeiten. Und das für dasselbe Handwerk.“
Es ist das Los der Gemeinden in Grenznähe zu Luxemburg. Dieses Problem kennt man auch in Frankreich und Deutschland. Weshalb diese Staaten, genauso wie Belgien, Ausgleichszahlungen für die „verlorenen“ Steuerzahler mit dem luxemburgischen Staat vereinbart haben. „Wir kriegen zwar einen Ausgleich von Luxemburg“, sagt Dhur, „der deckt aber nicht das, was wir an Einnahmen hätten, wenn diese Menschen in Belgien arbeiten würden.“
Doch der Grenzverkehr fließt nicht nur in eine Richtung. Fünfzehn Autominuten nördlich von Burg-Reuland liegt St. Vith, die größte Stadt in der Region. An der Hauptstraße, die am historischen Kern der Stadt vorbeischneidet, duckt sich ein alter Bau aus schweren grau-braunen Steinen in den Schatten einer Baustelle. Es ist das Sekretariat der Maria-Goretti-Schule (MGS), einer freien katholischen Sekundarschule. Nebenan entsteht ein Neubau für die Grundschule. Im kühlen Altbau empfängt Monique Pint, die beigeordnete Schulleiterin.
Pint ist Deutschlehrerin und unter anderem zuständig für die Klassenzusammensetzung. Luxemburgische Schüler gibt es an der MGS, seit sie sich erinnern kann. Zurzeit sei etwa jeder zehnte Schüler aus Luxemburg. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. „Einige Eltern schätzen das belgische Schulsystem, manchmal haben sie es selbst besucht.“ Auch das Angebot der MGS könne eine Rolle spielen, so Pint. „Unser technischer Übergang für die Richtung Erziehung ist sehr interessant für luxemburgische Schüler. Weil die MGS die einzige Schule in der Region ist, die so etwas anbietet.“ Schüler erhalten dabei nicht nur das Abitur, sondern auch eine umfassende Ausbildung im Bereich Erziehung.
Luxemburg braucht Pendler
Auch in Burg-Reuland gibt es einige luxemburgische Grenzgänger im Bildungssystem. „Wir haben immer Schüler aus Luxemburg in unserem Kindergarten und in der Primarschule“, sagt Bürgermeisterin Marion Dhur. Einer der Gründe: Während Kinder in Luxemburg, die nach dem 1. September geboren sind, teilweise ein ganzes Jahr warten müssen, um in den Schulzyklus einzusteigen, sind in der DG die Regeln zum Schuleinstieg weniger streng. Wer dann die ersten Jahre im belgischen Schulsystem verbracht hat, geht anschließend häufig gemeinsam mit den Schulfreunden auf eine Sekundarschule in St. Vith wie die MGS.
Während einige Schüler also nach Ostbelgien pendeln, fahren die Erwachsenen jeden Tag in die Gegenrichtung. Aber wohin eigentlich genau? Ihre Bürger seien über das ganze Großherzogtum verteilt, sagt Marion Dhur. Von Esch im Süden, über Luxemburg-Stadt bis zu den Shoppingzentren im Norden Luxemburgs direkt an der Grenze.
Luxemburg ist abhängig von diesen und anderen Grenzgängern aus seinen Nachbarländern. Viele von ihnen arbeiten im Gesundheitssektor. Ein Fakt, den das Land vor allem in der Pandemie zu spüren bekam. Bei seinem Treffen mit dem Ministerpräsidenten der DG am vergangenen Montag sagte Premierminister Xavier Bettel, ohne diese Grenzgänger „wären die Überlebenschancen von luxemburgischen Covid-Patienten deutlich geringer gewesen“.
Weshalb sich Bettel bei seinem Kollegen Oliver Paasch aus der DG mehrfach dafür bedankte, dass sich dieser in den Anfangsmonaten der Pandemie für offene Grenzen eingesetzt hatte. Welches Chaos die Grenzschließungen in einer Region angerichtet haben, die von ihrer Grenzenlosigkeit lebt, daran erinnert sich Bürgermeisterin Dhur noch allzu gut. „Die Leute konnten mit einem Passierschein für die Arbeit zum Shoppingzentrum im luxemburgischen Massen fahren, ihre Einkäufe durften sie dort aber nicht machen.“
Die Pandemie hat in der Grenzregion aber auch zu einer neuen grenzüberschreitenden Kommunikation geführt. Dhur lobt den engen Kontakt mit den Bürgermeistern der angrenzenden Gemeinden in Deutschland und Luxemburg, der sich in dieser Zeit verstärkt hat. „Wir haben sehr viel kommuniziert unter uns. Und auch heute noch schreibt man sich einfach eine WhatsApp. Auf dem kleinen Dienstweg haben wir sehr schnell sehr viel geregelt.“ Das sei das, so Dhur, was sie auf den höheren Ebenen der Politik vermisse. „Da wird das Ganze komplizierter gemacht, als es in Wirklichkeit ist.“
Wo für das eine Land die Grenzgänger zum wichtigen Teil des Systems werden, fehlen sie im anderen oft als Arbeitskräfte. In Ostbelgien herrscht Fachkräftemangel – wie in so vielen ländlichen Gegenden. Auch Oliver Paasch, der Ministerpräsident der DG, sieht in den Grenzgängern eine Medaille, die zwei Seiten hat. Auf der einen Seite geben die belgischen Grenzgänger ihr in Luxemburg verdientes Geld zum Teil auch in ihrer Heimat aus, der Staat gewinnt also doch ein wenig Steuereinnahmen. Auf der anderen Seite aber fehlen sie als Fachkräfte.
Problem Fachkräftemangel
Laut dem Statistikportal Ostbelgiens ist der Süden besonders betroffen vom Fachkräftemangel: kleine Betriebe, das Baugewerbe, das Handwerk und die Pflege. Es sind genau die Bereiche, in denen die meisten ostbelgischen Grenzgänger in Luxemburg arbeiten. 2022 waren es 27 Prozent im Baufach, 24 Prozent im Handel und in der Reparatur und zehn Prozent im Bereich Gesundheit und Soziales. Auch Marion Dhur berichtet in ihrer Gemeinde von etlichen Betrieben, in denen es keine Nachfolger gibt, die das Geschäft übernehmen können.
Es ist der Fluch und Segen einer grenzenlosen Grenzregion. An der MGS in St. Vith gibt es neben deutschsprachigen belgischen Schülern auch Deutsche, Luxemburger und französischsprachige Belgier aus der Wallonie. Die beigeordnete Schulleiterin Pint schätzt die Vielfalt, die das mit sich bringt. Unterrichtssprache an der MGS ist Deutsch, die Schüler erhalten ein deutsches Diplom. „Aber Französisch als zweite Sprache ist Pflichtsprache“, sagt Pint. „Auch als Vorbereitung für ein Studium an einer belgischen Universität.“ Nach dem Abschluss verteilen sich ihre Schüler. Einige gehen zum Studium nach Deutschland, andere nach Luxemburg, nach Maastricht in den Niederlanden, Lüttich, Gent oder Antwerpen.
Die Grenzen, die eigentlich keine mehr sind, schaffen weiterhin Probleme. Probleme, über die oft diejenigen entscheiden müssen, in deren Leben Grenzen keine große Rolle spielen. Die Nationalstraße 62 ist so ein Beispiel, über das Marion Dhur gerne spricht. Oder besser: über das sie nicht mehr gerne spricht, weil endlich Taten folgen sollen.
Die N62 ist die Straße, über die alle Grenzgänger fahren müssen, um von Ostbelgien nach Luxemburg zu gelangen. Sie ist eine der gefährlichsten Nationalstraßen der Wallonie; laut einer Analyse des Verkehrsinstituts Vias enden von 1.000 Unfällen mit Personenschaden 35 tödlich. „Ich schreibe fast wöchentlich den Ministern der zuständigen wallonischen Region“, sagt Dhur. „Unsere Wege sind für derlei Verkehr nicht gemacht. Wenn ich alle Straßen zusammen zähle, gehe ich von mehr als 20.000 Fahrzeugen pro Tag aus, die durch unsere kleine ländliche Gemeinde fahren.“
Zweigeteilte Strecke
Es brauche dringend eine Umgehungsstraße, um die Ortschaften zu entlasten, so Dhur. Der Verkehr zur Hauptstoßzeit spalte die Ortschaften an der Strecke in zwei Teile. Die Straße zu dieser Zeit zu überqueren, sei lebensgefährlich.
Dhur übertreibt nicht. Macht man sich von Burg-Reuland am Nachmittag auf den kurzen Weg nach Luxemburg begegnet einem auf der Gegenfahrbahn eine nicht enden wollende metallisch glitzernde Karawane. Die Strecke an sich ist eigentlich sehr malerisch. Eine schmale Landstraße, die sich durch eine idyllische Hügellandschaft schlängelt. Ein paar kleine Orte, Kuhweiden auf der einen Seite, die letzte belgische „Friterie“ vor der Grenze auf der anderen. Allein: Auf diesem kurzen Stück wird man an diesem Nachmittag Zeuge von gleich zwei waghalsigen Überholmanövern weit jenseits der erlaubten Geschwindigkeit.
Eine, die diese Straße jeden Tag auf ihrem Weg zur Arbeit fährt, ist Angie Schäfer. Sie arbeitet als Rezeptionistin und Assistentin bei einer Immobilienagentur mit Sitz im grenznahen Shoppingzentrum Massen. Schäfer lebt in St. Vith und hat noch nie in Belgien gearbeitet. Mit 18 Jahren machte sie eine Ausbildung im Tourismusbereich in Luxemburg-Stadt, später arbeitete sie in verschiedenen Städten, von Ingeldorf bis Ulflingen. An Luxemburg als Arbeitsort schätzt sie – neben den offensichtlichen finanziellen Vorteilen – das Multikulturelle und die Sprachenvielfalt zwischen Luxemburgisch, Deutsch und Französisch. „Meine Eltern haben auch schon ihr Leben lang in Luxemburg gearbeitet“, sagt Schäfer, „man hat es mir also vorgelebt.“ Grenzenlosigkeit, das ist hier mittlerweile auch Familientradition.
Jeder, der sich beklagt, klagt auf einem sehr hohen Niveau
Beim Besuch des Ministerpräsidenten der DG sagte Xavier Bettel am Montag: „Wenn es Ostbelgien, wenn es den Grenzgängern gut geht, dann geht es Luxemburg auch besser.“ Deshalb die abschließende Frage an Bürgermeisterin Dhur: Wie geht es Ostbelgien, wie geht es den Grenzgängern? Sie lacht. „Eigentlich gut.“ Man habe – besonders in den fünf Eifelgemeinden im Süden der DG – fast Vollbeschäftigung. „Und wenn jeder eine Arbeit hat und Geld verdient und machen kann, was er möchte, geht es einem gut. Jeder, der sich beklagt, klagt auf einem sehr hohen Niveau.“
Grenzregionen aufkaufen dann haben wir weniger Grenzgänger (und neue Bauflächen)