In der Kritik steht der Staatsrat schon lange: Im Jahr 1856 unter König-Großherzog Wilhelm III. im Rahmen einer per Staatsstreich im autoritären und reaktionären Sinne geänderten Verfassung ins Leben gerufen, wurde besonders in den letzten Jahrzehnten immer wieder an der demokratischen Legitimität des Gremiums gezweifelt, das oftmals die „zweite Kammer“ oder die „hohe Körperschaft“ genannt wurde.
Die Kritikpunkte lauteten häufig, wie aus einem 1999 erschienenen Artikel der Zeitschrift Forum hervorgeht: Der Staatsrat habe eine undemokratische Ernennungsprozedur, sei parteipolitisch einseitig, hörig gegenüber Arbeitgeberschaft und Verwaltungen und verhindere außerdem manche parlamentarische Gesetzesinitiativen nicht mit seinen Avis, sondern durch Nichtbegutachtung. In einem Forum-Dossier zum 150-jährigen Jubiläum des Staatsrates hegten die heutigen Regierungsparteien noch deutlich Zweifel an der Legitimation des Gremiums. Der damalige LSAP-Fraktionschef Ben Fayot: „Ich denke jedoch nicht, dass der Staatsrat ein politisches Organ sein sollte, eben auch wegen seiner Zusammensetzung (…) Und da stellt sich für mich ernsthaft die Frage nach der politischen Legitimation.“
„déi Lénk“ will Staatsrat abschaffen
Derweil sparte die damalige Regierungspartei CSV mit Kritik. Nicht so die linke Opposition: „Wir haben den Staatsrat schon immer infrage gestellt“, sagte der „déi Lénk“-Politiker David Wagner am Dienstag bei einer Pressekonferenz. Ähnlich hatte sich übrigens auch eine andere Partei im Jahr 1989 geäußert. Wie der Historiker Michel Pauly in einem Forum-Artikel zitiert, schrieben „déi gréng“ in ihrem Wahlprogramm damals: „Vom demokratischen Prinzip her ist für uns klar, dass wir jegliche nicht frei gewählten, nicht demokratisch legitimierten Institutionen wie Staatsrat und Monarchie, mit ihren Vor- und Sonderrechten, auf keinen Fall gutheißen.“ Von grüner Seite war eine ähnliche Fundamentalkritik in den letzten Jahren nicht mehr zu vernehmen. Schließlich ist die Regierungspartei heute selbst in dem Gremium vertreten.
Aus internationaler Sicht hatte in den 90er Jahren der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg etwas auszusetzen. Grundlage war das Urteil der Straßburger Richter im Fall der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Procola vom September 1995, bei der es eigentlich um Milchquoten ging. Die Trennung der drei Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative wurde als nicht gesichert angesehen. Daraus folgten eine tiefgreifende Reform des Staatsrats und die Schaffung einer unabhängigen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit, aber auch die Stärkung der Zuständigkeiten des Staatsrates als Beratungsorgan per Verfassungsänderung vom 12. Juli 1996.
Was „déi Lénk“ nun zum Handeln brachte, waren die jüngsten Enthüllungen des Online-Magazins Reporter.lu über „offensichtliche Interessenkonflikte“ einzelner Staatsräte, die außerdem in der Privatwirtschaft tätig sind. In einer Pressemitteilung forderte die Partei bereits vergangene Woche, der Staatsrat gehöre in seiner derzeitigen Aufstellung abgeschafft. Den Linken zufolge handelt es sich um „eine intransparente und undemokratische Institution“. Das wohl markanteste Beispiel für die besagten Interessenkonflikte gibt laut Reporter.lu Staatsratsmitglied Lucien Lux ab. Seit 2014 ist der ehemalige LSAP-Politiker und Ex-Minister Inhaber der Gesellschaft „Minga S.à r.l.“, deren einziger Kunde kein Geringerer als der Immobilieninvestor Flavio Becca ist. 2022 habe Lux über seine Firma 289.000 Euro an Dividenden erhalten.
Dass Lux einen massiven Interessenkonflikt hatte, zeigt ein Einblick in die Plenarsitzung des Staatsrates vom 13. Juli dieses Jahres, den Reporter.lu gibt: Auf der Tagesordnung stand die zweite Beurteilung der Reform der Krankenhausplanung, in der geregelt werden soll, in welchem Rahmen auch private Arztpraxen MRTs und andere Spezialuntersuchungen anbieten dürfen. Die Deadline der Abstimmung war nach Angaben des Online-Magazins für 14.00 Uhr vorgesehen. Doch schon um 9.37 Uhr habe Lux die ergänzende Stellungnahme an Becca geschickt und dafür seinen privaten E-Mail-Account genutzt. Weitere Beispiele von sogenannten Interessenkonflikten werden genannt: etwa von Alain Kinsch (DP). Der damalige Managing Partner des Big-Four-Wirtschaftsberatungsunternehmen EY soll laut Medienberichten das Gutachten der Steuerreform verfasst haben. Heute ist Kinsch Staatsrats-Vizepräsident. Nach seinem Weggang von EY wurde er zum Präsidenten der Luxemburger Börse ernannt, außerdem sitzt er im Verwaltungsrat der Versicherungsgruppe Foyer. Patrick Santer (CSV) etwa ist Partner bei Elvinger Hoss und der Präsident des Staatsrats, Christophe Schiltz (LSAP), ist Direktor im Kooperationsministerium. Reporter.lu führt weitere Beispiele auf.
Intransparenter „Kuhhandel“
Derweil ist die „Hohe Körperschaft“ nicht so sehr um Transparenz bemüht, schließlich behält sie für sich, wer die einzelnen Gutachten verfasst, was ihr diverse Zweitnamen eingebrockt hat: „obskure Körperschaft“ (Reporter.lu), „Schattenkammer“ (Tageblatt), die Ernennung der Mitglieder sei ein „Buch mit sieben Siegeln“ (woxx), das Lëtzebuerger Land bezeichnete die Prozedur als „Kuhhandel“. Verständnis für das Gebaren zeigte hingegen Kultur- und Justizministerin Sam Tanson („déi gréng“), die von 2015 bis 2018 im Staatsrat saß: Schließlich sei Luxemburg ein kleines Land. „Da bekleidet man schnell zwei Funktionen.“
Das könne er schon nicht mehr hören, sagt der frühere Abgeordnete der Linken, David Wagner. Andere Länder seien noch kleiner. „déi Lénk“ brachte im Januar 2023 einen Antrag in der Chamber, in dem sie forderte, dass die Interessensgrundlagen der Mitglieder öffentlich gemacht werden sollten. Diese Resolution sei an die Präsidentenkonferenz verwiesen worden. „Dort verstaubt sie in einer Schublade“, so der Ex-Abgeordnete Marc Baum. Für die Linken kein Wunder: „CSV, DP, LSAP, ,déi gréng‘ und ADR haben kein Interesse an solch einer Reform, weil sie selbst Mitglieder in den Staatsrat schicken.“ Die Linken sind für einen „anderen Staatsrat“, der als beratendes Organ für das Parlament und nicht der Regierung fungiert und dessen Mitglieder von diesem nominiert werden sollen: „Die gesellschaftliche Repräsentativität des Gremiums soll gestärkt werden, indem zivilgesellschaftliche Institutionen und Organisationen der Chamber die Mitglieder vorschlagen.“
In seiner momentanen Zusammensetzung hat der Staatsrat laut „déi Lénk“ einen „schädlichen Einfluss“ auf den Gesetzgebungsprozess. Er sei „undemokratisch“ und „unsozial“. Der Staatsrat stelle sich häufig als „erhabene Institution“ dar, doch dies sei „Augenwischerei“, sagt Wagner. „Die Staatsräte sind nicht gewählt, üben aber viel Macht aus. Außerdem kommen sie weiterhin vorwiegend aus der Oberschicht und vertreten auch vorwiegend die Interessen der Reichen.“ Gesetzesvorschläge, die ihnen nicht passten, brauchten Jahre und wurden demnach verschleppt oder erst gar nicht begutachtet. Als Beispiel nennt Wagner den Verfassungsvorschlag von „déi Lénk“. Dieser sei nicht nötig, weil es schon einen Vorschlag gebe, hieß es seitens des Staatsrates. Nach Ansicht der Linken „ein flagrantes Missverständnis von demokratischen Initiativen“. Wagner hatte im Juli 2016 zwei Gesetzesvorschläge eingebracht, so etwa, dass Eigentümer von Immobilien an den Maklergebühren beteiligt werden sollen. Der Staatsrat lehnte den Vorschlag mit dem formellen Einspruch ab, dass damit die „liberté de commerce“ eingeschränkt werde. Dabei hatte sich „déi Lénk“ an dem entsprechenden belgischen Gesetz orientiert. Als Wohnungsbauminister Henri Kox („déi gréng“) einen ähnlichen Vorschlag einreichte, gab es keinen Einspruch mehr. Was auf ein „politisches Gutachten“ hindeutet.
„Interessenvertreter der Baulandbesitzer“
Ähnlich sah es auch beim Gesetz zu den ambulanten Krankenhausstrukturen aus. Der Staatsrat habe zwei sehr kritische Gutachten abgegeben, die ein „politisches Pamphlet für die Privatisierung des Gesundheitswesens“ gewesen seien. Ein anderes Beispiel sei das Gutachten zum Gesetz über den Baulandvertrag gewesen, mit 27 formellen Einsprüchen. Der Staatsrat habe sich dabei als „Interessenvertreter der Baulandbesitzer“ entlarvt, so Marc Baum. Seine Partei fordert, dass der Staatsrat nicht nur als Teil des Parlaments fungieren soll, das die Gesetzesprojekte auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft, sondern jeweils zur Hälfte vom Parlament und von Organisationen der Zivilgesellschaft bestimmt werden soll. Außerdem sollten Staatsräte, wie Abgeordnete, ihre Einkünfte und ihr Vermögen offenlegen. Die Prozedur des internen Disziplinarrechts müsse darüber hinaus einer unabhängigen Instanz unterliegen. „Es gibt keine Institution, die sich auf diese Art selbst kontrolliert und es seinen eigenen Mitgliedern überlässt“, sagt Wagner, „dabei wimmelt es nur so von Dysfunktionen.“ Der Linken-Politiker fügt hinzu, der Staatsrat habe sich immer als „Rat der Weisen“ dargestellt, gleiche aber vielmehr einem „Cercle Munster – allerdings ohne Zigarren und ohne Cognac“. Umso mehr sei Transparenz wichtig. Und umso mehr sei es an der Zeit, Konsequenzen zu ziehen. Und Lucien Lux müsse, „wenn er noch einen Funken Ehre hätte, demissionieren“. Kritik an der Institution ist von den Regierungsparteien momentan nicht zu hören. Nur ein Parteigenosse des langjährigen LSAP-Politikers brachte es auf den Punkt: „Der Staatsrat ist keine demokratisch legitimierte Institution.“ Es war der Abgeordnete Dan Kersch, einst selbst Mitglied des hohen Gremiums.
Der Staatsrat
„Die Aufgabe des Staatsrats besteht darin, zu allen Gesetzentwürfen, Gesetzesvorlagen und Verordnungsentwürfen eine Stellungnahme abzugeben, sowie zu allen anderen Fragen, mit denen er vom Großherzog oder von Gesetzes wegen betraut wurde, Stellung zu nehmen. Der Staatsrat setzt sich aus 21 Räten zusammen, von denen mindestens elf einen Hochschulabschluss in Jura erworben haben müssen. Die Räte werden vom Großherzog ernannt. Um zum Mitglied des Staatsrats ernannt zu werden, muss man Luxemburger sein, über seine bürgerlichen und politischen Rechte verfügen, im Großherzogtum wohnhaft sein und das dreißigste Lebensjahr vollendet haben. Die Staatsräte werden für eine Amtszeit von zwölf Jahren ernannt. Bei der Ernennung des Kandidaten wird der Verteilung der politischen Parteien in der Abgeordnetenkammer sowie einer ausgewogenen Vertretung von Frauen und Männern Rechnung getragen.“ (Quelle: gouvernement.lu)
Zusätzlich kann der Erbgroßherzog Mitglied des Staatsrates sein – dann steigt die Mitgliederanzahl auf 22.
Gesetze werden vom Volke oder von der Nation gemacht und nicht vom Staatsrat. Eine verstaubte Verwaltung aus dem 19. Jahrhundert gehört abgeschafft.
Ein Staatsrat der es nicht schafft, die moralische Strahlkraft eines demokratischen Rechtsstaates zu bündeln und verantwortlich zu repräsentieren, ist auf einem identitätsstiftenden Holzweg.
MfG
Robert Hottua
Bin schon etwas erstaunt über das "Personal" des Staatsrates.
Können auch "Normales" aufgenommen werden?