Den Auftakt im Wettbewerb um den begehrten Goldenen Löwen macht der italienische Spielfilm „Commandante“ von Edoardo De Angelis – mit Pierfrancesco Favino, dem gegenwärtigen Star des italienischen Kinos, prominent besetzt, erzählt „Commandante“ von einem italienischen Unterseeboot zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Favino gibt Salvatore, den ganz eigenwilligen Kapitän der „Cappellini“ – ein Prestigeprojekt des italienischen Kinos. Ein thematisch noch viel italienischerer Film, jedoch unter der Regie eines Amerikaners, ist „Ferrari“ von Michael Mann. In diesem lang erwarteten Film schildert Mann die Krisenjahre des weltbekannten Motorunternehmens rund um das Rennen der Mille Miglia 1957. Es mag an dem starken thematischen Zuschnitt auf eine Ikone der italienischen Öffentlichkeit liegen, ferner am Umstand, dass mit Michael Mann, der im Februar seinen 80. Geburtstag feierte, eine Regiegröße – der vielleicht letzte wahre amerikanische „Auteur“ – im Wettbewerb vertreten ist, dass „Ferrari“ am Lido herausragt.
Mit „El Conde“ kehrt Pablo Larraín zurück zur Mostra, allerdings mag sein neuer Film einen Einschnitt in der Karriere des Chilenen markieren, ist Larraín doch zuvor entschieden und voreingenommen als ein Regisseur auf den Plan getreten, der dramaturgisch zugespitzt und nahezu rauschhaft Frauenschicksale präzise aus der Subjektiven schilderte: „Jackie“ (2016), „Ema“ (2019) und „Spencer“ (2021). Dass er in „El Conde“ von dem Diktator Augusto Pinochet berichtet, verwundert dann aber nicht weiter. Als schwarze Satire konzipiert, darf dieser Film wohl Larraíns politischster sein.
Die Erwartungen an Ryusuke Hamaguchis neuen Film sind entsprechend groß, hat er doch vor zwei Jahren nach seinem Oscar-Gewinn mit „Drive My Car“ als bester internationaler Film weltweite Aufmerksamkeit erlangt. Nun erzählt der Regisseur in „Evil Does Not Exist“ von einem Vater und seiner Tochter, die in einem verschlafenen Dorf in der Nähe von Tokio leben. Doch mit dieser Idylle soll bald Schluss sein, als eine Glamping-Firma dort ein Resort errichten will.
Auch der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos gehört zu den eigenwilligsten filmischen Stimmen der Gegenwart, „Poor Things“ ist sein neuestes Werk: Eine junge Frau, Bella Baxter (Emma Stone), wird von dem Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) zurück ins Leben gebracht. Ihr Selbstfindungsprozess soll zu einer Abhandlung über Fragen der weiblichen Selbstbestimmung, der sozialen Gerechtigkeit und des Abstreifens von Vorurteilen werden. Basierend auf dem gleichnamigen schwarzhumorigen Roman von Alasdair Gray und als feministische Neulektüre von Frankenstein angedacht, verspricht „Poor Things“, eine Weiterführung des dekonstruktivistischen Ansatzes patriarchaler Machtstrukturen zu sein, die Lanthimos bisher konsequent verfolgte. Abzuwarten bleibt, wie „Poor Things“ sich in gegenwärtige Diskurse einschreiben wird, die besondere audiovisuelle Handschrift des Griechen ist indes unbestritten.
Nachdem der italienische Regisseur Matteo Garrone sich mit der äußerst beklemmenden wie eindringlichen Charakterstudie „Dogman“ (2018) um einen Hundepfleger, der sich nebenbei etwas als kleinkrimineller Drogendealer hinzuverdienen möchte, oder noch zuvor mit der fast gänzlich dokumentarisch anmutenden Studie um die neapolitanische Camorra, „Gomorrha“ (2008), einen Namen machte, scheint er sich mit „Io Capitano“ eher dem griechischen Sagenstoff zuzuwenden: Als homerisches Märchen angelegt, folgt der Film zwei Jungen, Seydou und Moussa, die von Dakar nach Europa reisen. Diese moderne Odyssee soll ebenso die Ambivalenzen der menschlichen Seele durchqueren.
Außer Konkurrenz
Im Bereich des Filmprogramms „außer Konkurrenz“ fallen dieses Jahr besonders drei Filme ins Auge: „The Caine Mutiny Court-Martial“ des kürzlich verstorbenen William Friedkin wird am Lido seine Weltpremiere feiern – basierend auf dem Theaterstück von Herman Wouk, darf man gespannt sein, inwiefern der Film als Remake des Filmklassikers „The Caine Mutiny“ von 1954, mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, Bezug auf diesen nimmt, oder der Film doch, dem Eigensinn Friedkins entsprechend, versucht, neue künstlerische Wege zu gehen. Letzteres scheint plausibel, hat sich Friedkin doch zeitlebens überaus kritisch zu den gegenwärtigen Entwicklungen im amerikanischen Mainstreamkino geäußert, immer auch klang da seine Kränkung an, dass das Konzept des künstlerischen Autorenfilms heute nicht mehr so greifen würde.
Kontroversen rund um die Filmauswahl eines Festivals scheinen mittlerweile zu einer medienwirksamen Werbestrategie geworden zu sein. In Cannes war es noch der Auftaktfilm „Jeanne du Barry“, der mit Johnny Depp in der Rolle König Ludwigs des XV. für Aufsehen sorgte, ist das Image des amerikanischen Weltstars doch nach seinem Gerichtsprozess gegen seine Exfrau, Schauspielerin Amber Heard, stark beschädigt. Am Lido nun wird bereits im Vorfeld über „The Palace“ von Roman Polanski und „Coup de chance“ von Woody Allen diskutiert. Entgegen der Aufforderung, diesen umstrittenen Künstlern – um Polanski und Allen kreisen nie enden wollende Vergewaltigungsvorwürfe – keine Bühne mehr zu geben, beharrt der Programmdirektor, Alberto Barbera, auf den Charakter der Kunstfertigkeit der Filme der „Mostra d’Arte Cinematografica di Venezia“.
Die Krimigeschichte um ein Dreiecksverhältnis bei Allen oder die Milieustudie einer zusammengewürfelten Hotelgesellschaft in der Schweiz bei Polanski verfolgen wahrscheinlich Ansätze, die im Schaffen dieser beiden Regie-Veteranen nicht unbedingt als neu gelten dürfen, die Diskussion rund um die Filmemacher ist es indes auch nicht, denn dahinter steht freilich immer die Frage: Darf und kann man den Komplex um Werk-Autor-Mensch strikt trennen? Wie weit darf das Postulat der Kunstfreiheit gelten?
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