Tageblatt: Immer wieder, zuletzt im Streit um das Asyl-Schiff Bibby Stockholm, fragen sich viele Freunde Großbritanniens: Wo ist die pragmatische Kompetenz geblieben, für die Ihr Land einmal bekannt war?
Greg Hands: Ich sehe das etwas anders. Wenn eine Regierung deutlich mehr als zehn Jahre im Amt war, wird der Wunsch groß, sie dauernd zu kritisieren. Das war in den letzten Jahren der Labour-Regierung 2008 bis 2010 nicht anders. Das heißt aber nicht, dass die Regierung weniger kompetent agiert. Sondern die Kritik ist härter. Das ist wahrscheinlich in allen Demokratien ähnlich.
Wie in der Asyl-Politik, so fehlt auch in der Nordirland-Frage jegliches strategisches Denken. Sollten Sie nicht schleunigst versuchen, mit der derzeitigen Regierung in Dublin eine dauerhafte Lösung zu finden?
Ich muss Sie schon wieder enttäuschen: Ich weiß fast nichts über unsere Beziehungen zur irischen Republik. Ich bin der Chairman der Konservativen. Meine Aufgabe lautet: Wahlen vorbereiten und gewinnen. Ich bereite unsere Partei auf die nächste Unterhauswahl vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im kommenden Jahr steigt. Wann immer Premierminister Rishi Sunak an die Urne gehen will, muss ich bereit sein zu sagen: „Rishi, die Partei steht bereit.“ Das bedeutet: Die Kandidaten für die Wahlkreise sind ausgewählt, die professionellen Wahlkampfmanager kennen ihre Aufgaben, die Strategie für die sozialen Medien ist beschlossene Sache.
Im Königreich darf der Premierminister innerhalb bestimmter Grenzen den Wahltermin frei bestimmen. Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der Sie sagen: „Rishi, jetzt lieber noch nicht“?
Ich möchte nicht in die Situation kommen, wo ich sagen muss: „Herr Premierminister, wir sind noch nicht so weit.“ Aber wir würden sicher darüber sprechen: Wollen wir jetzt die Entscheidung suchen, im Frühjahr, im Herbst? Am Ende bleibt es seine Entscheidung.
Um dem Premier alle Optionen offenzulassen, müssen Sie Kandidaten für jeden der britischen Wahlkreise vorweisen können. Wie viele fehlen noch?
Die derzeitigen Abgeordneten, die weitermachen wollen, sind fast alle von ihren Bezirksgliederungen bestätigt. Mein Ziel ist: Weitere 100 Kandidaten sollten bis zum Parteitag Anfang Oktober feststehen. Und dann folgt der Rest im Herbst und zu Beginn des neuen Jahres.
Weil sie eine Niederlage fürchten, haben viele amtierende Mandatsträger ihren Rückzug angekündigt. Darunter sind viele junge Leute, auch eine Reihe von Ex-Kabinettsmitgliedern.
Da sind einige, die schon viel erreicht haben, das stimmt. Das war bei der letzten Labour-Regierung aber nicht anders. Generell ist die Zugehörigkeit zum Parlament heutzutage seltener eine lebenslange Aufgabe; viele Leute wollen es für eine begrenzte Zeit machen und dann einen anderen Job übernehmen. Seit ich dem Unterhaus angehöre …
… Sie wurden 2005 erstmals gewählt …
… sind die Abgeordneten jünger und weiblicher geworden. Es kommen Jüngere, es gehen aber auch Jüngere als früher.
Es besteht die Klage, dass Sie zu viele Kandidaten auswählen, die aus der Kommunalpolitik kommen und kleinkariert nur an den jeweiligen Wahlkreis denken.
Das halte ich nicht für richtig. Man kann beides sehr gut machen. Ich selbst war lang Mitglied des örtlichen Bezirksrates, ehe ich Unterhaus-Abgeordneter wurde und mich mit außen-, energie- und handelspolitischen Themen befasste. Viele unserer herausragendsten Leute waren vor ihrem Wechsel ins nationale Parlament Kommunalpolitiker. Ich nenne nur John Major, Theresa May und Liz Truss.
Sie zählen Truss zu den besten Leuten der konservativen Partei?
Also gut, lassen Sie mich das neu formulieren: Viele der Leute, die Premierminister wurden, waren ursprünglich in der Kommunalpolitik tätig. Und andere nicht. Zu letzteren gehören die früheren Premiers Cameron und Johnson sowie jetzt Rishi Sunak. Ich glaube nicht, dass man daraus irgendetwas ableiten kann.
Die beiden gescheiterten Tory-Premierminister Johnson und Truss haben eine Reihe von Getreuen für Sitze im Oberhaus nominiert. Hat sich Ihre Partei damit nicht sehr blamiert?
Aus dem Amt geschiedene Regierungschefs haben das Recht auf solche Nominierungen, das ist eine alte Tradition. Regierungen aller politischen Schattierungen haben sich daran gehalten. Ich sehe da eigentlich nicht die Reputation der konservativen Partei betroffen.
Truss war 49 Tage im Amt. Sollte sie das Recht haben, Leute für die nächsten 50 Jahre ins Oberhaus zu schicken?
Ich habe die Liste nicht gesehen. Einstweilen handelt es sich um Spekulationen.
Die Medien berichten immer nur über Fehler und Versäumnisse. Das liegt wohl daran, dass die Leute gar nicht über den Brexit hinwegkommen.
Und Johnsons Nominierungen? Zu denen zählen eine 30-Jährige und ein 31-Jähriger, deren einzige Erfahrung darin besteht, Johnsons diskreditiertes Regime so lange wie möglich aufrechterhalten zu haben.
Ich kann mich nur wiederholen: Es handelt sich um die Entscheidung des früheren Premierministers. Immerhin wird man feststellen dürfen, dass die Leute darüber jammern, im Oberhaus würden nur ältere Herrschaften herumsitzen. Und dann kritisieren sie die Berufung einer 30-jährigen Frau – darf ich bei dieser Gelegenheit noch etwas Allgemeines sagen?
Bitte sehr.
Ich möchte darum werben, dass Großbritannien eine bessere Presse erhält. Seit dem Brexit-Referendum ist die Berichterstattung nicht gut. Alles wird durch das Brexit-Prisma gesehen. Stets heißt es, seit dem Brexit sei alles schlechter geworden, Großbritannien habe die Orientierung verloren und so weiter.
Brexit wird zu Recht als der schwerste strategische Fehler dieses Landes seit 50 Jahren angesehen, und zwar sowohl innen- wie außenpolitisch.
Ich möchte ja nur, dass objektiv über die Vorgänge in Großbritannien berichtet wird. Johnsons aktive Klimapolitik zum Beispiel war meiner Beobachtung nach auf dem Kontinent fast unbekannt. Es wurde auch viel zu wenig darüber berichtet, dass Johnson schon sehr früh vor Putins Krieg gegen die Ukraine warnte.
Ihre Regierung macht aber auch viele, viele dumme Sachen.
Und die Medien berichten immer nur über Fehler und Versäumnisse. Das liegt wohl daran, dass die Leute gar nicht über den Brexit hinwegkommen.
Auf welchen Politikfeldern wollen Sie die nächste Wahl bestreiten?
Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil wir es noch nicht wissen. Derzeit wollen wir ganz bewusst unsere Regierungsaufgaben erledigen, nicht den Wahlkampf vorbereiten. Die Leute wollen sehen, dass Rishi Sunak seine Arbeit macht.
Zu Jahresbeginn hat der Premier fünf mehr oder weniger haltbare Versprechen für dieses Jahr abgegeben.
Eben. Da geht es um 2023, nicht um die Legislaturperiode oder die Zukunft. Das kommt später. Darf ich umgekehrt Sie fragen, wie Ihre Prognose für die nächste Wahl lautet?
Sie haben eine sehr, sehr harte Aufgabe vor sich. Im Übrigen reichen 14 Jahre auch. Das Land braucht die Veränderung.
Genau, und Rishi Sunak stellt diese Veränderung dar.
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