Ich schaue auf das Meer hinaus, das silbrig scheint in dem Licht der herabsteigenden Sonne. Der Horizont trennt Meer und Himmel voneinander und ich kann mir schon fast nicht mehr vorstellen, dass etwas hinter dieser Linie liegt. Auf dieser kleinen Insel kommt mir die Welt da draußen nicht mehr real vor.
Dabei wusste ich gestern Morgen noch nicht einmal, dass es diese Insel gibt. Da hatten meine Freundin M. und ich noch vor, an einen ganz anderen Ort zu reisen. Wir hatten gerade eine Woche in einem Yogaretreat in Kampot, einer Stadt im Südwesten Kambodschas, verbracht und wollten jetzt für drei Tage auf die bei Touristen beliebten Insel Koh Rong Sanloem fahren. Aber dann hörten wir von dem Angebot eines Hostels auf der abgelegenen Insel Koh Ta Kiev. Während der Regenzeit kann man dort für weniger als 100 Euro sechs Nächte in einem Baumhaus im Dschungel verbringen, erzählt uns eine Yogalehrerin beim Frühstück. Drei Mahlzeiten täglich sind dabei im Preis inbegriffen. Auf dem Bahnhof der Hafenstadt, von der die Fähren auf die Inseln ablegen, entscheiden wir uns spontan, unseren Plan zu ändern. Statt unsere Fähre nach Koh Rong Sanloem zu nehmen, fahren wir mit einem Tuctuc an einen Strand eine Stunde außerhalb der Stadt. Dort wird uns ein Boot des Hostels abholen und nach Koh Ta Kiev bringen. Da die Insel kaum bewohnt ist, gibt es keine Fähren dahin.
Als wir am Strand ankommen, stellen wir fest: Eigentlich ist er ein Garten. Eine Familie hat hier ein kleines Haus und eine Wiese, die Anschluss an einen kleinen Streifen Strand hat. „Die Realität des Reisens ist weit weniger glamourös, als die ganzen hübschen Bilder es glauben lassen“, sage ich zu M., während ich versuche, mein Mittagessen (eine Packung Chips aus dem einzigen Laden in der Gegend) vor einigen hungrigen Hühnern zu verteidigen. Wir haben uns auf eine Bank im Garten gesetzt und lachen über die Absurdität unserer Situation. Es sind noch drei Stunden, bis das Boot uns abholen wird. In der Zeit müssen wir im Pavillion der Familie unterkommen, weil es ein großes Gewitter gibt.
Ich beginne, an unserer Entscheidung zu zweifeln. „Vielleicht war einsame Insel doch keine so gute Idee“, meine ich, nachdem ich „Giftige Tiere Kambodscha“ gegoogelt habe. Aber jetzt ist es zu spät. Wir fahren nach Koh Ta Kiev, auch wenn wir nicht wissen, was uns dort erwarten wird.
Als wir auf der Insel ankommen, beginnt die Sonne gerade, unterzugehen. Wir laufen von unserem Baumhaus an den Strand und dann in die Wellen hinein. Für einen kurzen Moment haben wir das Gefühl, unendlich zu sein. Es gibt keinen anderen Ort mehr, an dem wir gerade gerne sein würden.
Wir gewöhnen uns schnell an den Lebensrythmus auf der Insel. „Das Leben ist beruhigend hier in seiner Einfachkeit. Ich starre die meiste Zeit auf die Wellen. Ich habe das Gefühl, ich habe weniger Gedanken hier“, schreibe ich an einem Tag in mein Notizbuch. Das Hostel liegt isoliert im Dschungel, deshalb gibt es hier nicht viel mehr als einige Holzhäuser und Hängematten, Felsen, Streifen an Strand und das Meer, das alles umgibt.
Wir verbringen unsere Zeit damit, in Hängematten zu liegen, mit anderen Reisenden zu reden und im Meer zu baden. Manchmal bleibe ich länger als eine Stunde im Wasser. Als ich einmal vom Schwimmen zurückkomme, fragt mich jemand: „Was hat dir das Meer heute gesagt?“ „Dass es keinen Grund gibt, nicht glücklich zu sein“, antworte ich.
Ab und zu machen wir Spaziergänge durch den Dschungel. Andächtig gehen wir die kleinen Pfade entlang und lauschen den Geräuschen des Urwalds. Wir wissen, dass wir hier an einem Ort sind, den wir nicht verstehen und der uns nicht gehört. Die unglaubliche Vielfalt der Natur auf der Insel beeindruckt uns. Im Dschungel liegt sogar ein Moor und eine Savannah.
Diese Biodiversität ist leider bedroht. Viele der umliegenden Inseln sind bereits zu Entwicklungsprojekten und Zielen von unökologischem Massentourismus geworden. Auf der größeren Insel Koh Rong wurden bereits zahlreiche Urlaubsresorte und Straßen gebaut. Sogar ein Flughafen soll dort errichtet werden. Dabei liegt die Insel weniger als eine Stunde mit der Fähre von dem nächsten Flughafen auf dem Festland entfernt. Es gibt Pläne, auch Koh Ta Kiev in ein Resort für Menschen mit viel Geld zu verwandeln.
„Findest du es nicht deprimierend, dass es das alles hier bald vielleicht nicht mehr geben wird?“, frage ich J. an einem Tag. Wir sitzen in einem gekenterten Boot auf dem Strand und schauen auf das Meer. „Ich bin vor allem unglaublich dankbar, dass wir es noch erleben dürfen“, sagt er. J. kommt aus England, aber lebt seit einigen Monaten auf der Insel. Er arbeitet im Hostel und bekommt dafür Verpflegung und Schlafplatz umsonst. Er hat vieles gelernt in seiner Zeit auf der Insel und ich mag die Geschichten, die er davon erzählt. Einmal meint er: „Noch ist es eine Insel, auf der man Schätze finden kann.“
Das Leben auf Koh Ta Kiev ist nichts für Reisende, die viel Komfort erwarten. Da das Baumhaus, das ich mir mit M. teile, offen ist und keine Fenster hat, gibt es kein wirkliches Draußen oder Drinnen. „Es war quasi direkt in unserem Zimmer“, meint M. eines Morgens, nachdem sie in der Nacht wieder einmal von einem Gewitter erwacht wurde.
Wir begegnen auch immer wieder Tieren in unserem Zimmer. Einige davon sind ganz süß, wie Julius, ein besonders großer Gecko, der immer wieder bei uns vorbeischaut. Andere sind lästiger, wie die blutrünstigen Mosquitos, die es auf mich abgesehen zu haben scheinen. Eines Morgens muss ich feststellen, dass ein Loch durch meinen Tagesrucksack gefressen wurde. Ich hatte einen halben Oreo drin vergessen, was einer hungrigen Ratte vor mir aufgefallen ist.
Die Nächte gestalten sich oft interessant, da nach 23 Uhr keine Elektrizität mehr gibt. Mehr als einmal irren wir erst mehrere Minuten ohne Licht durch den Dschungel, bis wir unser Baumhaus wiederfinden. Auch tagsüber gibt es oft keinen Zugang zu Elektrizität. Die Wi-Fi-Verbindung ist sehr schlecht und funktioniert nur für wenige Stunden am Morgen und am Nachmittag. Fotos laden oder Telefonate machen ist unmöglich, eine Internetseite laden kann lange dauern. Aber hier braucht man kein Handy, auf dieser kleinen Insel kann man sich sowieso nicht verlieren.
Auf Koh Ta Kiev findet man keinen Luxus, aber das macht den Charme der Insel aus. Am Ende unserer Woche dort fragen M. und ich uns, wie die Zeit so schnell vergehen konnte und was wir mit ihr gemacht haben. In unserer Erinnerung verschmelzen die Konturen der Tage alle miteinander und sind einzeln kaum mehr auszumachen.
Als das Boot uns zurück aufs Festland bringt, beobachte ich, wie die Insel aus meinem Sichtfeld verschwindet. Auf dem Festland angekommen, sieht es so aus, als hätte das Meer die Insel verschluckt. Für einen kurzen Moment frage ich mich, ob es sie überhaupt real war. Jetzt gibt es sie für mich nur noch in meinem Kopf, aber dort wird sie immer so bleiben, wie sie war.
Zur Person
Laila Bintner wurde im November 2002 geboren und ist in Lintgen aufgewachsen. Sie ist am Fieldgen zur Schule gegangen und hat während ihrer Schulzeit ein Praktikum beim Tageblatt absolviert. In Berlin hat sie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Politikwissenschaft als Nebenfach studiert. Seit April reist sie auf eigene Faust durch Südostasien und berichtet über ihre Erfahrungen.
Von ihrer Reise sind bisher folgende Artikel erschienen:
One-Way-Ticket ins große Abenteuer (18. Juli 2023)
Spaziergänge durch Hanoi (24. Juli 2023)
Vollmond in Nordvietnam: Weiterreisen in den Bergen Vietnams (31. Juli)
Zwei Wochen, 1.600 Kilometer: Vietnam von oben nach unten (7. August)
Kultur und Geschichte in der Hauptstadt Kambodschas (16. August)
Schöne Reportage.Aber so werden einsame Inseln weniger einsam wenn einmal die Öffentlichkeit Blut gerochen hat. Aber als Reporterin.Was soll man tun!?