„Ihre Böswilligkeit grenzt an Sadismus. Sie zeigen keine Reue. Es gibt keine mildernden Umstände.“ Wie im englischen Strafprozess üblich, spricht Kronrichter James Goss an diesem Montagmittag die Verurteilte an. Dabei ist die frühere Kinderkrankenschwester Lucy Letby, vergangenen Freitag von den Geschworenen des siebenfachen vollendeten und sechsfach versuchten Mordes an 13 frühgeborenen Kindern verurteilt, am letzten Tag ihres zehn Monate dauernden Prozesses gar nicht im Krongericht von Manchester erschienen. Die Strafe, die Goss schließlich über die 33-jährige Serienmörderin verhängt, ist angesichts ihrer Taten unausweichlich: lebenslängliche Haft ohne Aussicht auf Entlassung.
„Feige“ nennt Premierminister Rishi Sunak das Verhalten von Letby, die schon die letzten Prozesstage geschwänzt hatte, und kündigt eine Gesetzesänderung an, die verurteilte Straftäter zukünftig zum Erscheinen zwingen soll. Wer aber zwingt das Nationale Gesundheitssystem NHS dazu, schwersten Vorwürfen gegen Ärzte oder Pflegepersonal rasch und gezielt nachzugehen?
Ignorieren, vertuschen, beiseiteschieben
Wieder einmal brachte der Prozess gegen Letby verheerendes Fehlverhalten vieler Verantwortlicher zu Tage. Ignorieren, vertuschen, beiseiteschieben – allzu lang verweigerten die Manager des Krankenhauses im malerischen nordenglischen Städtchen Chester die ernsthafte Befassung mit dem schweren Verdacht, der auf die zuvor allseits beliebte Krankenschwester gefallen war. Offenbar fürchteten sie den öffentlichen Skandal mehr als weitere Todesfälle.
Meines Erachtens könnten vier oder fünf der Babys heute Schulkinder sein, die dies nie sein werden
Es dauerte fast zwei Jahre, ehe endlich die Kriminalpolizei alarmiert wurde. In dieser Zeit konnte Letby weitere Babys töten oder zu geistig Behinderten ohne jede Aussicht auf Besserung machen. Zornig stellte einer der Pädiater, deren Bedenken monatelang ignoriert worden waren, nach dem Ende des Prozesses fest: „Meines Erachtens könnten vier oder fünf der Babys“, so der Facharzt Ravi Jayaram, „heute Schulkinder sein, die dies nie sein werden.“
Dass die Straftaten vor mehr als acht Jahren begannen und allesamt 2015 und 2016 begangen wurden, wirft ein Licht auf das unendlich zähe Prozedere sowohl im NHS wie in der Strafjustiz. Beide Institutionen leiden unter massiver personeller und finanzieller Auszehrung; als Teil der Probleme in Chester wurde stets der Personalmangel auf der Baby-Intensivstation genannt.
Die Regierung hat nun eine umfassende und rasche Untersuchung angeordnet, verweigert sich aber der Forderung vieler Kritiker nach einer unabhängigen, von einem Richter geleiteten Kommission. Diese könnte Zeugen zur Aussage zwingen, führt der frühere konservative Justizminister Robert Buckland als Argument an. Lord Alex Carlile geht noch weiter: Dem hochrangigen Kronanwalt und Mitglied des Oberhauses zufolge müsse der Kommission „ein ausländischer Kinderarzt“ angehören, um den Anschein zu vermeiden, dass der NHS über sich selbst urteilt.
Die Äußerungen spiegeln die tiefgehenden Bedenken vieler Fachleute gegen die internen Mechanismen im NHS wider. Dass bei der Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbehandlung für 55 Millionen Menschen immer wieder massive Fehler begangen werden und Missstände entstehen, wirkt wenig überraschend. Allzu häufig aber vermittelt das NHS den Eindruck, im Zweifel gehe es mehr um die Reputation des jeweiligen Krankenhauses und seiner Verantwortlichen. Lückenlose Aufklärung und etwaige Konsequenzen aus einmal gemachten Fehlern, geschweige denn zeitnahe Information von Patienten und deren Angehörigen, spielen höchstens in zweiter Linie eine Rolle.
Erst am Montag wurde die damalige Leiterin des Pflegepersonals in Chester von ihrem derzeitigen Posten suspendiert. Dabei gehörte Alison K. zu dem Trio von Chefs, deren mindestens nachlässiges Verhalten der Serienmörderin das Töten erleichterte. Im Juni 2015 hatte der verantwortliche Kinderarzt der neonatalen Abteilung, Stephen Brearey, erstmals Verdacht geschöpft. Binnen vierzehn Tagen waren vier seiner Patienten „kollabiert“, hatten also aus heiterem Himmel eine katastrophale Gesundheitsverschlechterung durchgemacht. Drei Babys starben, eines konnte gerettet werden. Mag der Tod auf einer Station für Frühgeburten auch häufiger Gast sein – dass eigentlich gesunde Kinder scheinbar grundlos kollabieren und sterben, bleibt ungewöhnlich.
Brearey analysierte die Patientendaten und die Besetzung der Intensivstation. Seinen Schluss teilte er dem Kollegen Jayaram mit. Die einzige Verbindung zwischen den vier Fällen sei „eine Krankenpflegerin“: Lucy Letby. Im Sommer und Herbst 2015 kam es zu immer neuen unerklärlichen Todesfällen oder so schwerwiegenden Gesundheitskrisen, dass Babys nur schwerbehindert überlebten. Doch die Pflegeleiterin, der medizinische Direktor und der Chief Executive des Spitals ignorierten alle Hinweise auf die allseits beliebte Letby. Im Gegenteil: Als diese gegen die misstrauischen Ärzte eine Beschwerde einreichte, zwang das Management die Betroffenen, darunter Brearey und Jayaram, sich schriftlich bei ihr zu entschuldigen. Der Sunday Times zufolge wurde der Serienmörderin sogar eine neue Stelle im viel größeren Kinderspital von Alder Hey in Liverpool angeboten.
Über das Motiv kann nur spekuliert werden
Erst im Frühjahr 2017 begann die Kripo ihre Ermittlungen. Auf diese gestützt erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Letby in 22 Fällen. Weil die Angeklagte strikt ihre Unschuld beteuerte, basierte der Fall auf Indizien. Dazu zählten in ihrer Wohnung gefundene Zettel mit Notizen wie „Ich bin böse, ich hab’s getan“. Auch hatte sie die Tötung von Babys durch Insulin-Gaben oder Luft in den Blutkreislauf im Internet nachgelesen. Über das Motiv konnte Kronanwalt Nick Johnson nur spekulieren: Wollte die junge Frau einen attraktiven Facharzt beeindrucken? Oder genoss sie das Gefühl, Gott spielen zu können?
Wie schwer den zwölf Geschworenen – eine Jurorin wurde zu Monatsbeginn vorzeitig entlassen – die Meinungsbildung fiel, lässt sich an der Dauer ihrer Beratungen ablesen: Mehr als einen Monat lang berieten die acht Frauen und vier Männer über die Beweislage. Am Ende entschieden sie 14 Mal auf schuldig, zweimal auf nicht schuldig. Bei sechs Delikten blieb eine Einigung von mindestens zehn der verbliebenen elf Jury-Angehörigen unmöglich.
Durch die 1933 im päpstlichen "Luxemburger Wort" vorgenommene Bejahung der Nazipolitik wurde die Tötung von PatientInnen billigend in Kauf genommen. Darauf hat der deutsche Psychiatrieprofessor Dr. Heinz HÄFNER indirekt bei seiner Rede auf dem "Saar-Lor-Lux" Symposium 2005 in der Ettelbrücker psychiatrischen Klinik hingewiesen.
▪ Pseudoethische Begründungen
" (…) Ein erster radikaler Schritt zur Verminderung eugenisch unerwünschter Fortpflanzung, die Zwangssterilisierung von Erbkranken, wurde in 25 Staaten der USA, in der Schweiz, den skandinavischen Staaten und in der radikalsten Form durch die Nationalsozialisten mit dem Gesetz zur Verhinderung der Verbreitung erbkranken Nachwuchses 1935 eingeführt. Bis 1945 sind in Deutschland etwa 360.000 Menschen unter diesem Gesetz zwangssterilisiert worden. Auch der fatalere Schritt zur Tötung unheilbar Kranker war lange vorbereitet worden. Den stärksten Einfluss auf Hitlers verbrecherische Umsetzung der eugenischen Ideologie in den Holocaust an psychisch Kranken, dem etwa 250.000 Menschen zum Opfer fielen, hatte die 1920 erschienene Schrift 'Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens' des Leipziger Strafrechtlers Karl BINDING und des Freiburger Psychiaters Alfred HOCHE. Sie lieferte pseudoethische Begründungen der Tötungsprogramme und Vorschläge für die rechtliche und praktische Realisierung. (…)"
(Prof. Dr. med. Heinz HÄFNER, Festvortrag "150 ans Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique" (CHNP), 75. "Saar-Lor-Lux" Symposium, CHNP / Ettelbrück, 19.10.2005)
MfG
Robert Hottua, 2004 Gründer der LGSP