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Vor 55 JahrenAls die Russenpanzer kamen – eine persönliche Erinnerung an das Ende des Prager Frühlings

Vor 55 Jahren / Als die Russenpanzer kamen – eine persönliche Erinnerung an das Ende des Prager Frühlings
Im August 1968 walzte der Warschauer Pakt unter Führung der Sowjetunion in der damaligen Tschechoslowakei die Reformbewegung Prager Frühling nieder Foto: dpa/Libor Hajsky

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Heute jährt sich zum 55. Male der Tag, an dem Truppen des Warschauer Pakts die verbündete CSSR besetzten und mit militärischer Gewalt dem Prager Frühling ein jähes Ende bereiteten. Unser Korrespondent Jindra Kolar erlebte den Einmarsch als 15-Jähriger.

Es waren sommerlich warme Tage in jenem August 1968. Erst am Wochenende war meine Familie von einem Urlaub am ungarischen Balaton heimgekehrt. Unsere Fahrt dauerte ungewöhnlich lang an diesem Samstag, nicht zuletzt deswegen, weil auf der Strecke von Balatonfüred zum Grenzübergang Komarno viele Militärfahrzeuge unterwegs waren. Wir dachten an ein groß angelegtes Manöver, weil die Panzer mit ungarischen und bulgarischen Besatzungen längs mit einem weißen Balken markiert waren.

Drei Tage später sah ich solche Panzer erneut. Sie rollten mitten in der Nacht unter den Fenstern unseres Hauses durch die Stadt, Richtung Prag. Es waren die frühen Morgenstunden des 21. August, der Sprecher im Radio rief alle Zuhörer auf, an den Apparaten zu bleiben, bald würde eine wichtige Meldung verkündet werden: „An alle Bürger der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik! Am 20. August gegen 23 Uhr haben Truppen der Sowjetunion, der Polnischen Volksrepublik, der Deutschen Demokratischen Republik, der Ungarischen Volksrepublik und der Bulgarischen Volksrepublik die Staatsgrenzen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik überschritten …“

Mit Steinchen die Panzer beworfen

Am Morgen schien der Spuk schon vorbei, nur noch die Kettenspuren auf dem Straßenpflaster zeugten vom Durchmarsch der Panzer. Ein einziger verblieb auf dem Marktplatz, kontrollierte so das Zentrum. Wir Jugendlichen übten uns in leichtsinnigem Protest und bewarfen ihn aus dem Versteck mit Steinen. Die Besatzung, kaum vier, fünf Jahre älter als wir, war verunsichert – und zum Glück für alle schossen sie nicht zurück.

Das war nicht überall so, in der gesamten Republik ließen 23 Menschen am ersten Tag der Okkupation ihr Leben. Insgesamt forderte die Invasion 137 Todesopfer. Ihrer gedenkt eine Bronzeskulptur der Bildhauers Jiří Sozansky, die dieser Tage im Armeemuseum auf dem Prager Žižkov feierlich enthüllt wurde.

Bereits in den Wochen vor dem Einmarsch hatte die Moskauer Führung versucht, auf politischem Weg Druck auf Prag auszuüben und die vorherrschende Rolle zu bestätigen. Der militärische Einmarsch war nun der Schlusspunkt der Auseinandersetzungen. Die Demokratisierungsbemühungen der Parteiführung um Alexander Dubček nahmen ein jähes Ende, eine moskaufreundliche Partei- und Staatsführung wurde im Frühjahr installiert. Doch die sogenannte Normalisierung sollte keine ewig dauernde Früchte tragen.

Historiker und spätere Politiker der beteiligten Länder räumten den Einmarsch und die folgende Besetzung später als Fehler ein und entschuldigten sich. Indes war die Entwicklung nicht zurückzudrehen. Das Vertrauensverhältnis war nachhaltig gestört. Die tschechische und slowakische intellektuelle Opposition zog sich in Nischen zurück und blieb dennoch aktiv. Das Manifest Charta 77 des Literaten und späteren tschechischen Präsidenten Václav Havel rief auf, die Ideale von 1968 nicht zu vergessen. Politische Ereignisse in der DDR (Ausbürgerung des Sängers Wolf Biermann 1976), in Polen 1980 (Streik in Gdansk) und schließlich in der UdSSR 1985 (Gorbatschows Glasnost und Perestroika) zeigten bis zum Mauerfall und der „Samtenen Revolution“ die Richtung an. Schließlich brachen das gesamte sozialistische System und das Sowjetimperium zusammen. 73 Jahre nach Staatsgründung zerfiel das Konstrukt Tschechoslowakei und die beiden unabhängigen Staaten Tschechien und Slowakei entstanden – beides heute bürgerliche Republiken.

Unterschiedliche Haltung zu Russland

Die Rezeption der Geschichte in den beiden Republiken scheinen jedoch unterschiedlich zu sein. Jüngere Generationen betonen, den Sozialismus auf keinen Fall wiederhaben zu wollen, die Älteren erinnern sich an soziale Sicherheit zu den damaligen Zeiten. Doch weniger als ein Viertel der nach 1990 Geborenen hat Umfragen zufolge genaue Kenntnisse der Ereignisse von 1968. Dies zeigt sich auch in der Haltung zu Russland und zu dessen Angriffskrieg in der Ukraine. Zwar betonen die Offiziellen beider Regierungen, man sei solidarisch mit Kiew. Doch während 71 Prozent der Tschechen Russland als Verantwortlichen des Krieges benennt, sind es nur etwa 40 Prozent der Slowaken.

Dort zeigt sich vor allem die sozialdemokratische Opposition um Robert Fico moskaufreundlich und plädiert dafür, Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen. Tschechiens Regierungschef Petr Fiala (ODS) hingegen lässt keine Gelegenheit aus, dem Präsidenten Selenskyj die uneingeschränkte Solidarität Prags zu versichern. Das Gedenken an den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 sei angesichts der russischen Okkupation in der Ukraine wichtiger denn je, so Fiala.