Das Motto ist natürlich verlockend. Gerade heute, in Zeiten von Inflation und steigenden Preisen. „Shoppe wie Milliardäre“, verspricht die neue App Temu. Und treibt damit ihre Downloadzahlen ins Millionenfache. Seit ein paar Wochen ist Temu die meistgeladene App in den USA und in großen Teilen Europas, wie Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien, Italien. Auch in Luxemburg liegt Temu im Google Play Store und im iOS App Store auf dem Spitzenplatz.
Die App ist das Tor zum Shopping-Paradies des Onlinehändlers Temu. Oder zur Shopping-Hölle, je nachdem, wie empfindlich man auf absolute Reizüberflutung reagiert. Produkte in knallbunten Farben. Uhren, die einen Angebots-Countdown herunterzählen. Banner, die besondere Aktionen anpreisen. Und überall Prozente, Rabatte, Kampfpreise. Bei Temu scheint es alles zu geben, die Preise starten bei wenigen Cent. Kinderspielzeug, Küchengeräte, Beautyprodukte, Kleidung, Elektronik. Die Topseller im Augenblick: eine LED-Lichtleiste zum Aufkleben für 3,99 Euro, eine Smartwatch für 16,49 Euro und kabellose Kopfhörer im Apple-AirPods-Look für 11,98 Euro. Das alles wird kostenlos geliefert. Aus China.
Ist Temu also nur ein Basar für billige Plastikprodukte und Wegwerfware? Ein kurzer Shopping-Hype, der morgen wieder vergessen sein wird? Alexander Graf, Experte für E-Commerce und Chef des Softwareanbieters Spryker, widerspricht: „Die falscheste Außendarstellung, die man jetzt wählen kann, ist, dass Temu nur billiger China-Ramsch ist.“ Bei Temu gibt es zwar keine Markenprodukte. Aber es findet sich hier auch einiges, was Amazon im Sortiment hat – nur deutlich günstiger. „Fast alle unsere Produkte kommen aus China“, sagt Graf. „China ist das Produktionshaus der Welt. Und Temu hat die zurzeit mächtigste Plattform, um dieses Produktionshaus zum Endkunden zu bringen.“
Zum ersten Mal liegt alles in chinesischer Hand
Temu selbst verkauft nichts, sondern stellt größeren und kleineren Händlern aus China einen Marktplatz zur Verfügung. Diese liefern ihre Waren direkt nach Europa zum Endkunden. Die eingesparten Kosten für Zwischenhändler und -lager sind ein Grund für die niedrigen Preise bei Temu. Ein weiterer liegt in der bestehenden Infrastruktur und den Lieferketten des chinesischen Mutterkonzerns Pinduoduo, auf die der Onlinehändler zurückgreifen kann.
Temu wurde 2022 in Boston gegründet – als internationale Version des chinesischen E-Commerce-Unternehmens Pinduoduo, das seinen Sitz in Schanghai hat und wie Temu zur PDD Holdings gehört. Für den Handel von Temu in Kontinentaleuropa ist Whaleco Technology Limited zuständig, ein Unternehmen mit Sitz in Dublin, Irland. Pinduoduo wurde 2015 vom ehemaligen Google-Mitarbeiter Colin Huang gegründet. 2018 ging das Unternehmen an die New Yorker Börse, Huang wurde Multimilliardär, zeitweise war er der zweitreichste Mann Chinas. In den vergangenen Jahren ist Pinduoduo zu einem der größten Onlinehändler auf dem chinesischen Markt aufgestiegen – mit mehr aktiven Käufern als der berühmte Rivale Alibaba.
Um zu verstehen, welche größere Bedeutung die Shopping-App mit den Kampfpreisen hat, muss man Temu in einem globalen Kontext betrachten – zusammen mit anderen chinesischen Anbietern wie der Social-Media-Plattform TikTok oder dem Fast-Fashion-Verkäufer Shein. Mit ihnen tritt die Expansion chinesischer Unternehmen und Wirtschaft in eine neue Phase. „Es ist das erste Mal, dass Plattformen aus China den Endkundenzugang besitzen“, sagt Graf. Zum ersten Mal liege die gesamte Handelskette, von einem Ende zum anderen, von der Fabrik bis zum Endverbraucher, in chinesischer Hand.
Graf erinnert sich an einen Blogbeitrag, in dem die Entwicklung des chinesischen Warenhandels in Europa und der restlichen Welt in drei Phasen aufgeteilt wurde: Zuerst kam „Made in China“: Westliche Händler verkauften chinesische Waren. Dann folgte „Sold by China“: Über Plattformen wie Amazon oder Ebay konnten chinesische Händler ihre Waren selbst verkaufen. Heute erleben wir „Marketed by China“: von der Produktion bis zum Endkunden, teilweise sogar inklusive der Logistik über Häfen und Warenlager in Europa, die chinesischen Unternehmen gehören. Die neue Seidenstraße transportiert auch Smartwatches für 16,49 Euro. „Das ist für mich schon der nächste Schritt in der Disruption des Handels“, sagt Graf.
Pinduoduo hat letztes Jahr richtig viel Geld verdient, mehr als alle deutschen Händler zusammen
Den chinesischen Markt hat das Mutterunternehmen Pinduoduo in den vergangenen Jahren schon durchgerüttelt. Dies liege, so Experten, vor allem an der Innovation des „Social E-Commerce“, mit dem Pinduoduo seine Nutzer dazu anhält, ihre Einkäufe zu teilen, um noch größere Rabatte zu bekommen. „Pinduoduo hat letztes Jahr richtig viel Geld verdient“, sagt Graf, „mehr als alle deutschen Händler zusammen.“
Es ist dieses Geld, mit dem sich Temu gerade auf den europäischen Markt wirft. Seit die App im Frühjahr auch in Europa startete, ist das orangefarbene Temu-Logo plötzlich überall. Auf Tiktok, bei Instagram, auf Facebook. Eine gigantische Werbekampagne. „Die kommen zum richtigen Moment mit einer klassischen Nutzergewinnungsstrategie in den Markt und attackieren eine Zielgruppe, die zu 130 Prozent Mobilgeräte besitzt, also 1,3 Mobilgeräte pro Person“, sagt Graf. In den USA, wo Temu schon ein paar Monate früher verfügbar war, kaufte sich das Unternehmen gleich zwei Werbeslots in der Halbzeitpause des Super Bowls, eines der wirkmächtigsten und teuersten Werbeplätze des Landes. Die Kosten: 14 Millionen US-Dollar. Graf schätzt die Marketing-Investition von Temu für den europäischen Markt auf 500 Millionen Euro oder mehr.
Ob sich Temu damit tatsächlich auf dem europäischen Markt etablieren kann, ist fraglich. Einige Produkte im Sortiment des Onlinehändlers scheinen nicht europäischen Standards zu entsprechen. Bei anderen wurde die CE-Kennzeichnung der EU gefälscht oder fehlte gleich ganz, wie ein Test des Hessischen Rundfunks zeigte. Shein, ein anderer chinesischer Händler mit besonders niedrigen Preisen, steht mittlerweile in der Kritik, giftige Stoffe in seiner Kleidung verarbeitet und gegen Arbeitsrecht verstoßen zu haben.
Gerade in den USA, die im Gegensatz zu Europa ihre Handelspolitik mit China deutlich verschärfen, läuft es für Temu nicht mehr so rund. Die App des Mutterkonzerns Pinduoduo flog im März aus dem Google Play Store, weil sie Malware enthielt, die sensible Daten ausspionierte. Eine Kommission des US-Repräsentantenhauses wirft Temu vor, Produkte zu vertreiben, die gegen US-Einfuhrgesetze verstoßen, weil sie Baumwolle aus der Uiguren-Region Xinjing enthielten und damit in Zwangsarbeit entstanden seien.
20.000 Bäume für die Zukunft
Und dann ist da noch die Frage der Nachhaltigkeit. Klickt man auf ein beliebiges Produkt in der Temu-App, taucht in der Versandbeschreibung ein grünes Blatt auf. Dahinter verbirgt sich ein Zertifikat der Organisation Trees for the Future, demnach Temu im Jahr 2023 schon 20.000 Bäume gepflanzt habe. Ob das den CO2-Fußabdruck ausgleichen kann, den die vielen Temu-Lieferungen verursachen, ist mehr als fraglich.
Laut dem Bericht der US-Kommission machten die Päckchen von Shein und Temu im Jahr 2022 mehr als 30 Prozent der zollfreien Lieferungen in die USA aus, das sind etwa 600.000 Päckchen pro Tag. Bei den niedrigen Preisen von Temu fallen keine Zollgebühren an. Auch in Luxemburg ist der Import von Waren, deren Wert 150 Euro nicht überschreitet, von Einfuhrabgaben befreit. Zudem ist der Versand aus China nach Europa aufgrund des Weltpostvertrags besonders preiswert. Ein Vertrag, den die EU-Kommission in naher Zukunft reformieren möchte.
Nichtsdestotrotz sieht Alexander Graf die größte Gefahr für Temu in China selbst. Dort herrsche gerade eine Wirtschaftsflaute. „Wenn die chinesischen Konsumenten weniger bestellen und Pinduoduo weniger Geld verdient, dann kann Temu in Europa auch weniger ausgeben.“ Graf ist sich sicher, dass es sich beim neuen chinesischen Onlinehändler nicht um eine Eintagsfliege handelt: „Ansonsten wird das ein heißes 2023 und 2024 für die meisten europäischen Händler und Hersteller.“
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können