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ForumEuropa droht die geldpolitische Straffung zu übertreiben

Forum / Europa droht die geldpolitische Straffung zu übertreiben
Am 27. Juli trafen sich Europas oberste Währungshüter zu ihrer turnusmäßigen Ratssitzung Foto: dpa/Arne Dedert

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Nach einer Reihe drastischer Zinserhöhungen durch die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank geht die Gesamtinflation in den USA und im Euroraum rasch zurück. Die geldpolitischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks haben jedoch deutlich gemacht, dass sie noch nicht am Ziel sind. Werden sie zu weit gehen?

Die Kerninflation, die in den USA und im Euroraum immer noch bei rund 5 Prozent liegt, gibt weiterhin Anlass zu großer Sorge. Die Notenbanker befürchten, dass die hohe Kerninflation (ohne Nahrungsmittel- und Energiepreise) angesichts des robusten Arbeitsmarktes eine Lohn-Preis-Spirale und eine Entkopplung der Inflationserwartungen auslösen könnte. Wie wir in den 1970er-Jahren gesehen haben, könnte dies dazu führen, dass es sehr schwierig – und teuer – wird, die Inflation unter Kontrolle zu halten, und dass die Zentralbanken vor der Herausforderung stehen, ihre verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.

Vor diesem Hintergrund scheinen die politischen Entscheidungsträger zu dem Schluss gekommen zu sein, dass die Risiken, zu wenig zu tun, um die monetären Bedingungen zu straffen, einfach zu hoch sind, und dass es besser ist, im Zweifelsfall zu viel zu tun. Die EZB hat diesen Standpunkt besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber sie sollte die Risiken eines Irrtums nicht unterschätzen, sowohl für die Wirtschaft des Euroraums als auch für ihre eigene Reputation. Und sie könnte sich irren.

Preisanstieg durch Angebotsstörungen 

Im Euroraum wurde der Inflationsschub Anfang 2022 hauptsächlich durch Angebotsschocks ausgelöst, die zu starken relativen Preisänderungen führten: Der Energieschock war in Europa größer als in den USA und die fiskalische Reaktion fiel geringer aus. Darüber hinaus wurde die EU als Nettoenergieimporteur von einem negativen Terms-of-Trade-Schock getroffen, der das real verfügbare Einkommen verringerte.

Inzwischen haben die Angebotsstörungen, die den Preisanstieg ausgelöst haben, nachgelassen und die geldpolitische Straffung zeigt Wirkung. Ja, die Kerninflation ist nach wie vor hoch. Aber wie meine Mitautorinnen Veronica Guerrieri, Michala Marcussen und Silvana Tenreyro und ich in einem neuen Bericht zeigen, ist dies aufgrund des sektorübergreifenden Preisanpassungsmechanismus zu erwarten.

Da Energieschocks und Lieferunterbrechungen verschiedene Sektoren unterschiedlich stark betreffen, führen sie über relative Preisanpassungen zu einer Umverteilung von Ressourcen zwischen den Sektoren. Die Preise für Güter und Dienstleistungen sind jedoch starr und die verschiedenen Wirtschaftsaktivitäten sind durch komplexe Input-Output-Beziehungen miteinander verbunden. Daher wird sich die Disinflation nicht in allen Sektoren sofort bemerkbar machen. Vor allem im Dienstleistungssektor, der nur indirekt von den höheren Energiepreisen betroffen ist, steigen die Preise mit einer gewissen Verzögerung und die Inflation geht nur langsam zurück.

Es ist daher zu erwarten, dass die Kerninflation noch einige Zeit hoch bleiben wird, bevor sie zurückgeht. Es gibt jedoch wenig Grund, zu versuchen, diesen Zeitraum zu verkürzen. Im Gegenteil, aggressive Maßnahmen zur Senkung der durchschnittlichen Inflation würden den Anpassungsprozess abwürgen und zu Ineffizienzen führen. Wir wissen, dass eine übermäßige geldpolitische Straffung die Nachfrage schwächt, aber durch die Unterbrechung der Umverteilung von Ressourcen würde sie auch den Konsum schwächen, indem sie die Effizienz untergräbt.

Das ist das Letzte, was Europa braucht. Die Industrieproduktion hat sich im zweiten Quartal dieses Jahres rapide verschlechtert und die Indikatoren für die Kreditbedingungen sind sehr schwach. Im Gegensatz zu den USA liegen Konsum und Investitionen in der Europäischen Union immer noch unter dem für 2019 erwarteten Trend. Viele, darunter auch Zentralbanker, haben ihre Besorgnis über die Auswirkungen einer weiteren Belastung oder sogar einer erneuten Rezession, insbesondere in Italien und Portugal, zum Ausdruck gebracht.

Mandat der Preisstabilität

Im Gegensatz zur Fed, die ein duales Mandat hat, verfolgt die EZB nur ein vorrangiges Ziel: Preisstabilität, definiert als eine Inflationsrate von 2 Prozent über einen unbestimmten „mittelfristigen Zeitraum“. Dies könnte erklären, warum die EZB bei der Bewertung der Risikobilanz zu einer restriktiveren Haltung neigt. Ein vorrangiges Ziel zu haben, bedeutet jedoch nicht, dass alles andere unwichtig ist: Die EZB ist auch vertraglich verpflichtet, die umfassenderen wirtschaftlichen Ziele der EU zu unterstützen.

Wenn die EZB also eine Politik konzipiert, die auf die Erreichung von Preisstabilität abzielt, sollte sie daher auch die sekundären Kosten – in Bereichen wie Konsum, Beschäftigung und Finanzstabilität – berücksichtigen, die die Fähigkeit der EU, andere Ziele zu erreichen, untergraben könnten. Tatsächlich sollten diese Kosten die Länge der „mittleren Frist“ mitbestimmen. Je höher die Kosten, desto länger der Zeithorizont für das Erreichen von Preisstabilität.

Die EZB scheint jedoch ihr Mandat der Preisstabilität strenger auszulegen. Anstatt ihren Ansatz anzupassen, um andere Ziele zu unterstützen, fordert sie eine restriktivere Finanzpolitik, um ihren Kampf gegen die Inflation zu unterstützen. Die politischen Entscheidungsträger scheinen nichts aus den Ereignissen des Jahres 2011 gelernt zu haben, als die ölgetriebene Inflation und die sich verschlechternden Bedingungen in der Realwirtschaft die EZB dazu veranlassten, zwei Zinserhöhungen vorzunehmen und auf eine restriktivere Finanzpolitik zu drängen. Das Ergebnis war eine Rezession, die zusammen mit Staatsschulden- und Bankenkrisen eine weit verbreitete Anti-EU-Stimmung schürte.

Die amerikanische Wirtschaft scheint widerstandsfähiger zu sein als die europäische, was möglicherweise zum Teil auf die massive fiskalische Unterstützung während der Pandemie zurückzuführen ist. Tatsächlich sieht es immer mehr danach aus, als würden die USA eine weiche Landung hinlegen und die Inflation wieder auf den Zielwert der Fed zurückführen würden, ohne eine Rezession auszulösen. Wenn die EZB ihr Mandat der Preisstabilität nicht mit mehr Geduld erfüllt, könnte Europa möglicherweise nicht so viel Glück haben.


Übersetzung: Andreas Hubig

Copyright: Project Syndicate, 2023

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Lucrezia Reichlin, ehemalige Forschungsdirektorin bei der Europäischen Zentralbank, ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der London Business School und Treuhänderin der International Financial Reporting Standards Foundation
Lucrezia Reichlin, ehemalige Forschungsdirektorin bei der Europäischen Zentralbank, ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der London Business School und Treuhänderin der International Financial Reporting Standards Foundation Foto: Niccolò Caranti