Die Copacabana ist einer der bekanntesten Stadtteile Rio de Janeiros in der Zona Sul, der unmittelbar zwischen dem Atlantik und den mit Favelas bevölkerten Granitfelsen liegt und über einen vier Kilometer langen Sandstrand verfügt. Sie ist knapp fünf Quadratkilometer groß und weist mit 34.000 Bewohnern pro km² die höchste Bevölkerungsdichte Rios auf. Das sind ähnliche Dimensionen wie der Abschnitt vom Ufer des Lac Léman, durch das Städtchen Nyon hindurch zum Gelände des Paléo Festival hinauf, wo sich bei manchen Konzerten ebenfalls weit über 30.000 Menschen vor der Bühne tummeln.
Der bekannteste Musikstil Brasiliens ist seit jeher die Samba sowie die Bossa Nova, die Samba- und Jazzelemente verbindet und durch die die brasilianische Musik in den 1950er und 1960er Jahren erstmals internationale Bedeutung erlangte. Seit den 1970er Jahren traten mehr und mehr der mit Soul und Funk angereicherte Tropen-Pop und der Samba-Reggae aus Bahia in den Vordergrund. Heute gewinnen zunehmend Fusionen an Popularität, die die regionalen Musiktraditionen mit Hip-Hop und elektronischer Musik mischen.
Her name was Lola – she was a showgirl
An den sechs Tagen des Festivals konnte man ein Potpourri all dieser Musikstile genießen, das von großer Qualität war und in dem, neben der verbreiteten Tanzwut und Lebensfreude, auch kritische Töne anklangen und etwa zu politischer und sozialer Gerechtigkeit aufgerufen wurde. Dass dies keine leeren Worthülsen sind und die Organisatoren des Festivals ihr soziales Engagement sehr ernst nehmen, zeigt die Präsenz auf dem Gelände von ONGs wie „Ärzte ohne Grenzen“ sowie „Aquaverde“, ein gemeinnütziger Verein, der sich für die Erhaltung des Amazonas-Regenwaldes einsetzt, die das Festival tatkräftig unterstützt.
Allein durch die Initiative des Teller-Spülens, mit dem Paléo den Plastik-Bergen, die sonst an Festivals entstehen, entgegenwirkt, ergaben sich – durch das Nicht-Einfordern des Pfands vieler Besucher – im letzten Jahr zusätzlich Spenden in Höhe von 20.000 Schweizer Franken, die den ONGs integral zugutekommen. Die 900.000 vor Ort abgewaschenen Teller und Becher der letzten Ausgabe wurden diesmal mit Sicherheit getoppt.
His name was Rico – he wore a diamond
Was die Musik angeht, haben uns von Lolas und Ricos Landsleuten folgende am meisten beeindruckt: Bia Ferreira, eine bildhübsche Sängerin und Aktivistin, die in ihren eindringlichen Songs unglaublich behände von Soul über Reggae bis zu Rap und Trap gleitet und sich in ihren engagierten Texten gegen Rassismus, Homophobie und andere Formen von Diskriminierung erhebt; Roda do Cavaco, ein Kollektiv, bei dem man sich augenblicklich in die heiße Atmosphäre der Rodas de Samba versetzt fühlt, wenn sie in die Saiten der Cavaquinho dreschen und alle möglichen Percussions zum Einsatz bringen, und schließlich das Elektro-Blasorchester Technobrass, eine berauschende Fusion zwischen Techno-Abend und alternativem Karnevalsfieber von Rio.
Ansonsten haben es die Veranstalter erneut geschafft, sowohl alle Generationen als auch die unterschiedlichsten Musikliebhaber in friedlicher Koexistenz zufriedenzustellen. Es gab jede Menge Nostalgie, beispielsweise beim Auftritt von Maxime Le Forestier. Der 74-jährige Chansonnier, der kürzlich eine Zungenkrebs-Erkrankung überwunden hat und dessen Auftritt 1974 in Nyon das erste größere Konzert war, das Paléo-Chef Daniel Rossellat organisierte, sorgte für einen sehr bewegenden Moment, ebenso wie eine andere lebende Legende: der 78-jährige Max Romeo, einer der Urheber des jamaikanischen Roots-Reggae Anfang der 1970er Jahre und der immer noch die Flagge der Rastafari-Bewegung hochhält.
„Lever le poing pour changer ce monde …“
Für die jungen Festivalgänger gab es die spektakulär aufgezogenen Shows zweier Stars der TikTok-Generation, Rosalía und Aya Nakamura. Wahrlich nicht jedermanns Sache, zumal solche Selbstinszenierungen nicht mehr sonderlich viel mit Musik zu tun haben, doch was soll’s, es gab ja genügend Alternativen. Intensiv war der Auftritt der Sängerin Imany, die von acht Celli begleitet ihr Projekt „Voodoo Cello“ präsentierte: ein Programm, das fast nur aus Coverversionen bestand – u.a. von Bob Marley, Radiohead, Imagine Dragons, Tones and I oder Elton John –, die sie sich beeindruckend zu eigen machte und die ihr scheinbar geholfen haben, einen schweren Burnout zu bekämpfen. Am Ende reckte sie die Faust gemeinsam mit ihren Fans in die Höhe („Lever le poing pour changer ce monde, et pour le changer il faut commencer par changer soi-même“).
Auch einige Indie-Rock- oder Popgrößen, die zu Beginn der Nullerjahre groß im Geschäft waren, um die es jedoch in letzter Zeit ruhiger wurde, feierten eine Art Comeback: Zu ihnen gehören Franz Ferdinand, Interpol, Phoenix und vor allem Louise Attaque, die ihr Konzert in zwei Sets eingeteilt hatten. Das erste bestand aus der integralen Darbietung ihres Debütalbums von 1997, sodass bereits beim zweiten Song „J’t’emmène au vent“ das Publikum kollektiv ausflippte, der zweite – ebenso beeindruckende – aus neueren Songs.
Stage-Diving wieder angesagt
Die Show von Gaëtan Roussel und Co. wussten in puncto Stimmung lediglich drei Acts noch zu toppen, die so richtig auf Tuchfühlung mit ihren Fans gingen: Frank Carter & The Rattlesnakes, Shaka Ponk sowie Bigflo & Oli. Der Erstgenannte sprang – aufgepuscht durch den rauen Sound seiner britischen Punkgenossen – sofort nach Erscheinen auf der Bühne in die Masse und animierte seine Fans zu immer wilderen Moshpits. Shaka Ponk boten eine von der Energie der musikalischen Darbietung, aber auch von den visuellen Effekten her atemberaubende Show. In Outfits und einer Bühnendeko irgendwo zwischen Steampunk und Mad Max sorgten sie für ein regelrechtes musikalisches Inferno, das in einem Cover von „Smells like Teen Spirit“ kulminierte, und stahlen den nach ihnen programmierten Placebo klar die Show.
Brian Molko wirkte etwas lustlos, sprach überhaupt nicht mit dem Publikum, und so wirkten Placebo trotz starker Songs und einwandfreiem Sound an diesem Abend etwas blutleer. Einen sehr schönen Satz richtete ihr launischer Chef dann doch an seine Fans: „Bienvenue dans cette merveilleuse forêt enchantée que l’on appelle Paléo.“ Das Rapper-Brüderpaar aus Toulouse Bigflo & Oli machten ihrerseits alles richtig, um das Publikum anderthalb Stunden lang bestens zu unterhalten. Mal lustig, mal ausgelassen, mal sehr ernst und besinnlich, mit Hilfe großer, subtiler Reimkunst (man höre sich bloß einmal die Lyrics von „Sacré bordel“ an) sorgten sie für eine der Sternstunden der diesjährigen Ausgabe.
Überaus zufrieden zeigten sich bei der abschließenden Pressekonferenz die Veranstalter und mit ihnen insgesamt 250.000 Zuschauer sowie ein Säugling namens Yago, der in der Nacht zum Freitag unerwartet und mit Hilfe des medizinischen Notdienstes auf dem Camping-Gelände das Licht der Welt erblickte. Laut Pressesprecherin Michèle Müller seien Mutter und Sohn wohlauf. Paléo-Chef Daniel Rossellat hat dem kleinen Yago eine lebenslange Paléo-Dauerkarte versprochen.
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