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RadsportTour-Kolumne von Petz Lahure: „L’incident de course“

Radsport / Tour-Kolumne von Petz Lahure: „L’incident de course“
Jonas Vingegaard (links) gegen Tadej Pogacar – das Duell elektrisiert die Tour de France Foto: Thomas Sanson/AFP

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Es ist Tadej Pogacar hoch anzurechnen, dass er aus dem bedauernswerten Vorfall im Anstieg des „Col de Joux Plane“ keine Staatsaffäre machte und ihn als simplen „incident de course“ betrachtete. Andere Fahrer hätten sich möglicherweise nicht so friedfertig verhalten. In einer Tour, bei der es um jede Sekunde geht, ist es nicht unbedingt nachvollziehbar, dass ein Geschädigter die Lage so gelassen hinnimmt wie Pogacar. Vielleicht aber weiß er selbst, dass man die Fehler nicht immer nur bei den andern suchen soll.

Unachtsamkeit vs. Bauernschläue

Bei seinem rasanten Antritt auf den letzten 500 m der Steigung des „Col de Joux Plane“ wurde der Slowene gewiss von zwei Motorrädern ausgebremst, doch danach wählte er, der bessere Sprinter, eine falsche, geradezu stümperhafte Taktik, um sich oben auf dem Berg zu behaupten. Der Slowene hatte die acht Sekunden Bonifikation, die auf den Ersten warteten, fest eingeplant, am Schluss aber musste er sich mit fünf begnügen. Pogacars zeitweilig filmreifen Dilettantismus bestrafte Vingegaard mit Bauernschläue.

Die umgekehrte Reihenfolge auf dem „Joux Plane“ (1. Pogacar, 2. Vingegaard) hätte den Tour-Sieger von 2020 und 2021 näher an denjenigen von 2022 herangebracht. Zugleich wäre ein Aufschließen des späteren Etappensiegers Carlos Rodriguez, der wie aus dem Nichts auftauchte und an den tatenlosen Leadern vorbeifegte, verhindert worden, sodass Pogacar und Vingegaard den Etappensieg unter sich ausgemacht hätten.

Im Falle eines Erfolges wären Pogacar nochmals zehn Sekunden Zeitvergütung gutgeschrieben worden (statt 6“), Vingegaard auf Platz 2 sechs Sekunden (statt 4“). Rechnet man jetzt alles schön zusammen, würde Vingegaard zwar noch immer in der Gesamtwertung vorne liegen, doch Pogacar hätte (im günstigsten Fall) nur mehr zwei Sekunden Rückstand auf den Träger des „Maillot jaune“.

Plausibel, aber …

Die Mitschuldigen an der „Misere“ von Tadej Pogacar, der TV-Kameramann Brice Baudit und sein Motorradfahrer Sébastien Merono (Moto 305) sowie der Fotograf Bernard Papon mit seinem Fahrer Steeve Meilleur (Moto 501) bekamen von der Rennjury laut Artikel 12.2.007., Punkt Nr. 6.3 (Nichteinhaltung des Presse-Pflichtenhefts vor dem Bonussprint auf dem „Col de Joux Plane“) für eine Etappe die Akkreditierung entzogen.

Papon, Fotograf von L’Equipe und langjähriger guter Freund Ihres Kolumnisten, bedauerte den Vorfall zutiefst, auch wies er darauf hin, dass es zum gegebenen Zeitpunkt unmöglich war, dem Publikum auszuweichen, ohne Menschen zu verletzen.

Die Entschuldigung des Fotografen ist plausibel, aber nur zum Teil, denn einer, der so lange im Tour-de-France-Geschäft ist, muss wissen, wo es im Extremfall lang geht. Umso mehr, als Bernard Papon im Jahre 2016 am französischen Nationalfeiertag mitten im Peloton fuhr und spontan zur Stelle war, um das Bild zu schießen, das den damaligen Träger des „Maillot jaune“, Chris Froome, am Boden liegend hinter einem Motorrad von „France Télévisions“ zeigte. Dieser „incident“, wie man so schön sagt, sollte damals dafür sorgen, dass das Rennen mit einem Mal eine Wende bekam, auf die echte Sportsfreunde gerne verzichtet hätten.

Froome, Porte und Mollema

Vorne war (fast) alles gelaufen. Thomas De Gendt, der spätere Etappensieger, schickte sich an, den Endspurt vorzubereiten, gegen ihn hatten sein belgischer Landsmann Serge Pauwels und der Spanier Daniel Navarro keine Chance.

Rund zwei Kilometer hinter den drei Spitzenleuten spielte sich um dieselbe Zeit ein Drama ab, wie es der moderne Radsport noch nicht erlebt hatte. Im Anstieg zum Chalet Raynard entledigte Leader Chris Froome sich des Kolumbianers Nairo Quintana und dessen Movistar-Assistenten Alejandro Valverde, er war auf dem besten Weg, seinem vermeintlich ärgsten Gegner eine Lektion zu erteilen. BMC-Leader Richie Porte hatte Froomes Hinterrad gerade noch zur rechten Zeit erwischt, und ein bisschen später roch auch Trek-Leader Bauke Mollema, dass der gute Zug am Abfahren war. Er schnellte aus Quintanas Pulk heraus und schloss zu Froome und Porte auf.

Die drei bauten ihren Vorsprung auf das Peloton des Kolumbianers langsam, aber sicher aus. Quintana schien in keinem Moment ernsthaft reagieren zu können, er wirkte lethargisch und „erwachte“ erst, nachdem die andern Hals über Kopf ins Verderben gerannt waren.

Wie weiland François Faber …

Undisziplinierte Zuschauer setzten die Straßen derart zu, dass das Motorrad des französischen Fernsehens, das vor Porte, Mollema und Froome fuhr, zum Anhalten gezwungen wurde. Während der Pilot mit seiner Maschine vor der Menge stehen blieb, filmte sein Kameramann live, wie Porte mit voller Wucht in das Hinterteil des Motorrads rannte. Der Australier ging zu Boden, Mollema stolperte über ihn, und als Dritter machte Froome das Knäuel aus Karbon und Mensch voll. Er war der am meisten Geschädigte, denn er wurde zusätzlich von einem hinter ihm fahrenden Motorrad gerammt, sodass seine Rennmaschine in zwei Stücke zerbrach.

Als Erster schwang sich Mollema auf das Rad, er konnte weiterfahren, während Porte Probleme mit dem Wechsler hatte. Froome seinerseits machte sich wie im Jahre 1909 ein gewisser François Faber zu Fuß auf den Weg ins Ziel, mit dem Unterschied allerdings, dass er kein Rad an der Hand führte, was eigentlich Vorschrift ist. Der neutrale Materialwagen half Froome zwar wenig später mit einem Ersatzrad aus, was uns (auch eine Premiere) eine Charlie-Chaplin-Einlage bei der Tour 2016 bescherte, ehe der inzwischen verstorbene Sky-Sportdirektor Nicolas Portal seinem Leader endlich aus der Patsche half. Um diese Zeit waren Quintana und Co. längst am Leader vorbeigefahren, der wie ein Häufchen Elend hilflos am Straßenrand stand und nicht wusste, wie ihm geschah.

Im Stacheldraht

Dank einer Entscheidung der Jury aber musste Froome sein „Maillot jaune“ nicht abgeben. Außergewöhnliche Umstände bedingen eben außergewöhnliche Entscheidungen, sodass das Urteil der Kommissare durchaus nachzuvollziehen war.

Zwischenfälle, bei denen Fahrer von Motorrädern oder Begleitautos angefahren wurden, hat es in der Tour de France immer wieder gegeben. Wer erinnert sich nicht an 2022, als der Holländer Nils Eekhoff und der Neuseeländer Jack Bauer auf der letzten Pyrenäenetappe in derselben Abfahrt von zwei verschiedenen Motorrädern behindert wurden? Der eine stürzte, der andere knallte ins UAE-Begleitfahrzeug und machte ebenfalls Bekanntschaft mit dem Boden.

Im Jahr 2015 wurde der Luxemburger Däne Jakob Fuglsang im Anstieg des Col du Glandon von einem Motorradfahrer von der Straße gefegt, im Jahr 2011 rammte ein Auto mit einem unerfahrenen „Piloten“ an Bord den Spanier Juan Antonio Flecha und den Holländer Johnny Hoogerland. Flecha fiel auf die Straße, Hoogerland landete im Stacheldrahtzaun und musste mit 33 Stichen genäht werden.

Erinnerungen

Mehrmals war auch Ihr Kolumnist extremen Situationen in der Tour ausgesetzt. Nicht gerne erinnere ich mich an das Einzelzeitfahren rund um Saint-Etienne, das Jan Ullrich mit über 3 Minuten Vorsprung auf Richard Virenque gewann. Damals, am 18. Juli 1997, fuhr ich im Col de la Croix-de-Chabouret hinter einem Konkurrenten, als sich plötzlich von hinten der drei Minuten später gestartete Teilnehmer näherte. Mehrmals wurde ich aufgefordert, zu überholen, doch die Straße war so schmal, dass es zwischen dem Fahrer und den Zuschauern praktisch keinen Platz gab. Da konnte nur eines helfen: „Augen zu und durch“. Am Ende schaffte ich es schweißgebadet und mit viel Glück.

Mit schlechten Erinnerungen ist auch die zweite Episode verbunden: Am 20. Juli 2003, einem Sonntag, war ich auf der Pyrenäenetappe zwischen Saint-Girons und Loudenvielle im Col de Latrape unterwegs, als baskische Fans immer wieder versuchten, ihre roten Fahnen mit dem grünen Andreaskreuz und dem weißen Kreuz auf die Fensterscheiben meines Autos zu legen und mir dadurch die Sicht zu versperren. Im Schritttempo ging es den 1.110 m hohen Berg hinauf. Endlich oben, klingelte das Telefon. Am Apparat Kollege Laurent Graaff. Er teilte mir den Tod von Freund Jos Tompers aus der Tageblatt-Sportredaktion mit. Am Donnerstag jährt sich diese traurige Stunde zum 20. Mal. Das Andenken an Jos bleibt gewahrt.