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EditorialDer lange Schatten von Évian – Das Versagen der internationalen Asylpolitik

Editorial / Der lange Schatten von Évian – Das Versagen der internationalen Asylpolitik
Syrische Flüchtlinge im Libanon Foto: AFP/Anwar Amro 

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Die Ferien haben begonnen. Die Koffer sind gepackt. Ein Kontrollblick auf die Dokumente: Reisepass, Führerschein, Flugticket, Kreditkarten. Reisepass? Eine Passkontrolle brachte den maltesischen Poeten Antoine Cassar auf die Idee, eine Art von Pass in Gedichtform zu schreiben. Die Passpoesie verfasste er in verschiedenen Sprachen und ließ ihn von Francis Kirps auch ins Luxemburgische übersetzen. Cassar führt den unterschiedlichen „Wert“ von Reisepässen vor Augen: von EU-Bürgern, Nicht-EU-Bürgern – am Ende des Rankings stehen die Menschen ohne Pässe, ohne Papiere, Staatenlose. Sein universaler Pass ist ein poetisches Projekt mit utopischer Dimension. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Die Realität sind Flüchtende in Lagern und an unüberwindbar scheinenden Stacheldrahtzäunen, Menschen in überfüllten Nussschalen auf dem Mittelmeer, Schiffbrüchige auf Rettungsbooten und Wasserleichen an Stränden. Und die Realität ist der Asylkompromiss, auf den sich die Staaten der Europäischen Union geeinigt haben. Der Streit über den Umgang und die Verteilung der Flüchtlinge drohte die EU seit Jahren zu zerreißen. Die Reform sieht vor, dass die Missliebigen an Europas Außengrenzen abgefangen werden und dort in Lagern untergebracht werden, außerdem schnelle Verfahren und Abschiebungen. Wer kein Bleiberecht hat, soll möglichst innerhalb weniger Wochen zurückgeführt werden. Dazu zählen vor allem Menschen aus Ländern mit Anerkennungsquoten unter 20 Prozent, Minderjährige ausgenommen. Sie können aber auch jene betreffen, die aus Afghanistan und Syrien kamen, aber über sichere Drittstaaten wie zum Beispiel die Türkei einreisten. Der Asylkompromiss sieht auch Deals mit Mittelmeeranrainern wie etwa Marokko, Libyen oder Tunesien vor, die gegen Milliardenkredite helfen sollen, dass die Flüchtenden es überhaupt nicht versuchen, nach Europa zu gelangen. Autoritäre Machthaber als Grenzwächter. Der Spiegel schrieb bezeichnenderweise: „Das große Schachern hat begonnen.“

Erinnert sei dabei an die Konferenz von Évian, die heute vor 85 Jahren zu Ende ging. In dem Ort in der Haute-Savoie kamen vom 6. bis 15. Juli 1938 auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt Vertreter von 32 Staaten und 71 Hilfsorganisationen zusammen, um über die wegen der Nazi-Unterdrückung schnell gestiegenen Zahlen von flüchtenden Juden aus Deutschland, Österreich und auch Osteuropa zu beraten. Die Konferenz endete weitgehend ergebnislos: Außer der von dem Diktator Trujillo regierten Dominikanischen Republik weigerten sich alle Teilnehmerstaaten, mehr jüdische Flüchtlinge aufzunehmen und sie letztendlich vor dem Holocaust zu retten. Évian steht für ein moralisches Versagen der westlichen Demokratien – es ist ein Synonym für Schande.

Der Schutz der Flüchtlinge ist eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Vereinten Nationen verabschiedeten am 28. Juli 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention. Wer vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in seinem Herkunftsland flieht, hat das Recht, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Asyl ist ein Grundrecht und in Artikel 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Zwar wird mit dem Asylkompromiss dieses Grundrecht nicht abgeschafft, aber zumindest infrage gestellt. Die EU stellt sich ihrer Verantwortung nicht, sondern lagert sie aus. Sie hat aus Évian nichts gelernt. Stattdessen teilt sie Menschen in „legal“ und „illegal“ ein. Und zeigt damit auf schändliche Weise ihr Versagen.

Tilly
16. Juli 2023 - 13.14

Mein höchster Respekt für diese pertinente Analyse in nur wenigen Worten verfasst. Sie zeigt krasse Fakten auf, die der Gesellschaft einen grausamen Spiegel entgegenhalten und beweisen, dass die Welt in ihrer globalen Entwicklung nichts dazugelernt hat. Sowie unser Ausbildungssystem heutzutage gestaltet ist, in dem jungen Menschen tiefgreifend weder Medienpädagogik noch Rhetorik angeboten wird, wirkt es dieser Entwicklung nicht entgegen und bringt keine respektive nur minoritär große aktive Denker mit Weitblick hervor. Der Weg in der Vergangenheit, der zu überhaupt zu solchen Situationen führt, sowie die Konsequenzen für unsere gemeinsame Zukunft sind genauso beschämend wie die aktuelle dramatische Situation. Der Boomerang wird zurückschlagen, doch trifft er bedauerlicherweise oft nicht jene, die dafür verantwortlich sind....