Die Aufstände von damals seien mehr als Erinnerung und Mahnung, sie seien ein „Auftrag an alle Generationen“, betonte Steinmeier. Die gegenwärtigen Bedrohungen, denen demokratische Staaten heute ausgesetzt seien, zeigten einmal mehr, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit sei. Schon am 17. März hatte Steinmeier bei einem Festbankett im Schloss Bellevue in Berlin in einer Rede zum Gedenken an die Revolution 1848 und an die damaligen Barrikadenkämpfe in Berlin, an den Völkerfrühling und an den Beginn der Demokratien in Europa erinnert. Bereits vor 175 Jahren habe es in Europa Menschen gegeben, „für die nationale Einheit untrennbar mit der demokratischen Freiheit war und die sich für ein Europa einsetzten, in dem freie Nationen friedlich zusammenleben“.
Am 18. Mai 1848 war in der Frankfurter Paulskirche die deutsche Nationalversammlung zusammengekommen. Obwohl die 48er-Revolutionäre von den reaktionären Kräften geschlagen wurden und die damaligen Hoffnungen ein blutiges Ende erlebten, „war der Geist der Freiheit in der Welt – und ließ sich von keinem Obrigkeitsstaat und von keiner Diktatur mehr ersticken“, sagte Steinmeier. Auch wenn die 48er ihre Ziele nicht erreicht hatten, lebten ihre Ideale weiter: unter anderem in der deutschen Novemberrevolution von 1918, in der Reichsverfassung der Weimarer Republik, im demokratischen Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg – und in der Arbeiter- und Frauenbewegung. Wenn Steinmeier den 18. März 1848 als besonderen Tag der deutschen Geschichte bezeichnete, so muss hinzugefügt werden, dass der Sturm, der ab 22. Februar 1848 über Europa fegte, von Paris ausgegangen war und vielerorts in Europa Menschen gegen die Monarchien aufbegehrten.
Folgen für Luxemburg
Das Jahr 1848 steht für eine Revolution oder für eine Welle verschiedener Revolutionen, die fast alle Staaten Europas erfasste. Der Funke sprang früh auf Luxemburg über, wo die 48er-Revolution „große Konsequenzen“ hatte, stellte die Historikerin Marie-Paule Jungblut kürzlich in einem revue-Interview fest. Nicht zuletzt seien die luxemburgische Verfassung und das Parlament daraus hervorgegangen. Das Großherzogtum war damals Teil des Deutschen Bundes und 1842 dem Deutschen Zollverein beigetreten. Wie in vielen anderen Ländern Europas herrschte in Luxemburg zu jener Zeit Armut, verstärkt durch Missernten. Zahlreiche Menschen wanderten in die USA aus. König-Großherzog Guillaume II. war nichts anderes eingefallen, als in einer Proklamation die Situation schön zu malen, was den Volkszorn noch verstärkte. Der Aufstand nahm zwischen dem 12. und 15. März 1848 seinen Anfang in Ettelbrück, wo die „Marseillaise“ gesungen wurde. Dabei strebten die hiesigen Revolutionären nicht einmal einen Umsturz oder gar das Ende der Monarchie an.
Wie Marie-Paule Jungblut erklärte, „ging es in Luxemburg nie um die Republik“. Zwar stand Charles Théodore André, ein junger Anwalt und einer der Protagonisten der Revolution, politisch eher links und wurde „de rouden André“ oder „Volleksänder“ genannt, sprach sich jedoch nicht für die Republik aus. Jungblut nennt als tragende Bevölkerungsschicht des Aufstandes das liberale Bürgertum, aber auch die Anhänger des apostolischen Vikars Laurent, der ein „Ultramontaner“ war, also Anhänger einer Rom-treuen Bewegung des Katholizismus: Seiner Vorstellung nach sollte ein Katholik „die Kirche immer über den Staat stellen“. Laurent nahm sich der Unterschicht an, einer sehr ländlichen Bevölkerung sowie der entstehenden Arbeiterschaft, und sprach sich für ein allgemeines Wahlrecht aus. Das gefiel wiederum dem liberalen Bürgertum nicht. Einige Zeit lang ging Laurent sogar eine Art Zweckbündnis mit Charles Théodore André ein.
Entscheidend und von großer Bedeutung für Luxemburg war die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Bis dahin galt die landständische Verfassung von 1841. Die Regierung wollte eine verfassungsgebende Versammlung nach demselben Modus wählen lassen: Die Wähler mussten zehn Franken Steuern bezahlen, um die Wahlmänner wählen zu dürfen, und 20 Franken, um sich als Wahlmann zur Wahl stellen zu lassen. Neu war nun die Verdoppelung der Zahl der Wahlmänner. Man brauchte 72. Auf einmal musste man Wahlmänner auf dem Land finden, die diese Steuern bezahlten, was schwierig war. Die Landbesitzer konnten zwar das Geld aufbringen, waren aber nicht unbedingt gebildet. So saßen in der Versammlung auch Leute, die nicht schreiben und lesen konnten.
Superwahljahr 1848
Die neue Verfassung war stark von der belgischen inspiriert. Der König-Großherzog schwor schließlich am 10. Juli den Eid auf sie. „Es handelte sich zwar nicht um eine von einer demokratisch gewählten Konstituante ausgearbeitete Verfassung, sie stärkte jedoch das Gewicht des Parlaments und seine Autonomie“, so Marie-Paule Jungblut. „Das Parlament wurde zum Mitgesetzgeber, dem König-Großherzogtum blieb das Recht vorbehalten, die Gesetze zu sanktionieren und zu verkünden. Und ihm blieb die Exekutivgewalt.“ Schon 1848 war ein „Superwahljahr“: Die Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung, die ein neues Wahlrecht festlegte, dann die Wahlen für die Frankfurter Paulskirche, wo Luxemburg als Mitglied des Deutschen Bundes drei Abgeordnete stellte, und die ersten Parlamentswahlen nach dem neuen Modus fanden im September 1848 statt.
Nach den Worten von Marie-Paule Jungblut gab es 1848 in Luxemburg „mehr Kontinuität als Bruch“: Zwar seien die Verfassung und das Parlament daraus hervorgegangen, so die Historikerin. „Sozial war 1848 jedoch kein großer Erfolg. Man kann nicht sagen, dass es der armen Bevölkerung danach besser ging.“ Eine Errungenschaft war etwa die Vereinsfreiheit, durch die später auch Parteien entstehen konnten. 1856 kam es zum Staatsstreich, mit dem eine ganze Reihe der erlangten Rechte wieder verloren gingen. 1848 beziehungsweise 1848/49 wird daher oftmals als eine „gescheiterte“ Revolution bezeichnet. Aber die Ereignisse hätten eine „katalysierende Wirkung für die Demokratisierung der europäischen Gesellschaften, insbesondere auf die Entstehung der Arbeiter- und Frauenbewegung, der politischen Parteien und einer breiten politischen Öffentlichkeit“ entfaltet, schrieb Anne-Sophie Friedel im Februar in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“. „Als Teil eines gesamteuropäischen Wandlungsprozesses gegen das restaurative System in der Folge des Wiener Kongresses 1815 führten die Ereignisse von 1848/49 zu einer Weiterentwicklung der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen, die mit der Französischen Revolution ab 1789 und mit der Industriellen Revolution eingesetzt hatten.“ Vor allem die Uneinigkeit über die Dimensionen des politischen Wandels sowie gegenläufige nationale Interessen bremsten nach den Worten Friedels die Veränderungsdynamik aus. Die Revolutionäre waren zerstritten, was die Monarchen und Konservativen ausnutzten. Bis Herbst 1849 wurden die Revolutionen niedergeschlagen. Die Fürsten hatten wieder die Oberhand gewonnen. Es folgte eine erneute Restauration. Die hoffnungsvolle Phase des „Völkerfrühlings“ hatte nicht lange gedauert.
Geburtsstunde der Arbeiterklasse
Wie der Historiker Denis Scuto konstatiert, war 1848 nicht nur „die erste Revolution des industriellen Zeitalters“, sondern auch die Geburtsstunde der Arbeiterklasse und der sozialen Frage: „Ähnlich wie für viele europäische Nationalstaaten, stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass mit 1848 die Zukunft der Arbeiterbewegung begonnen hatte.“ Nicht zufällig stammt das „Kommunistische Manifest“ von Karl Marx und Friedrich Engels, aus dem die Grundprinzipien des Marxismus entwickelt wurden, vom 21. Februar 1848. Scuto weist darauf hin, dass sich hierzulande Luxemburg-Stadt mit Textil- und Papierfabriken, Druckereien, Brauereien und Tabakmanufakturen zu einem industriellen Zentrum entwickelt hatte. „Die Lage dieses Proletariats war katastrophal“, schreibt der Historiker. Am 21. April 1848 sei es unter der Federführung von Charles Théodore André mit dessen „Aufruf an die Arbeiter des Luxemburger Landes“ zum Geburtsakt der luxemburgischen Arbeiterbewegung gekommen. Doch die darin erhobenen Forderungen, darunter das allgemeine Wahlrecht, blieben unerhört. So schlussfolgert Scuto: „1848 gelang ein wichtiger Durchbruch im Bereich der Freiheit, aber noch nicht in jenem der Gleichheit.“
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