Jean-Claude Juncker nestelt an seiner Krawatte. Der Premierminister versucht, den obersten Knopf seines Hemdes zu öffnen. Um ihn herum sind die Mienen auf den Regierungsbänken der Chamber angespannt bis versteinert, während François Bausch als Berichterstatter des Geheimdienst-Untersuchungsausschusses einen Vorwurf nach dem anderen vorträgt. Es ist der 10. Juli 2013, an dem Juncker Neuwahlen ankündigt.
Ein entscheidender Tag am Ende einer Ära. „Ich schwitze nicht, weil ich Angst habe, sondern weil es heiß ist“, sagt Juncker. Punkt für Punkt geht er die lange Liste der Vorwürfe durch. Sechs Bereiche hat der Untersuchungsausschuss aufgelistet, in denen der Regierungschef als oberster Dienstherr des „Service de renseignement de l’État du Luxembourg“ (SREL) die politische Verantwortung trägt: innenpolitische Spionage, die schlechte Funktionsweise des Geheimdienstes, die mangelhafte Information der parlamentarischen Kontrollkommission, illegale Operationen, das Nichtweitergeben von Fakten, die Vergehen darstellen, sowie operationale Fehler, die von Juncker nicht disziplinarisch geahndet wurden.
Eine lange Vorgeschichte
Der Untersuchungsausschuss hat sich zuvor mit den zweifelhaften Praktiken des SREL beschäftigt. Diese sind aufgeflogen, als RTL am 19. November 2012 publik machte, dass Juncker im Jahr 2007 von dem früheren Geheimdienstchef Marco Mille mit einer Uhr abgehört worden war. Die Wochenzeitung Lëtzebuerger Land druckte Passagen des Gesprächs ab. Zudem ging es um eine CD mit einem Gespräch zwischen Premierminister Juncker und Großherzog Henri. Das Parlament beschloss Anfang Dezember 2012, den Untersuchungsausschuss über die SREL-Operationen seit 1960 einzusetzen.
Der Ausschuss nahm kurz darauf seine Arbeit auf und startete im Januar 2013 mit Vernehmungen. Auch Juncker und sein Vorgänger Jacques Santer werden eingeladen. Wie sich herausstellen sollte, hatte der SREL ein Archiv mit Tausenden bespitzelter Personen angelegt, illegale Abhöraktionen durchgeführt und Geschäfte mit Luxusautos gemacht, eigene Ermittlungen in der Bommeleeër-Affäre geführt und sogar eine Pädophilen-Geschichte konstruiert, um den Generalstaatsanwalt Robert Biever zu diskreditieren.
Während die SREL-Affäre weitere Kreise zog, begann im Februar der Bommeleeër-Prozess, bei dem Juncker und Santer ebenfalls als Zeugen geladen wurden. Die Regierung geriet zunehmend unter Druck. Neben Juncker stand Luc Frieden in der Kritik. Dem CSV-Politiker wurde unterstellt, als Justizminister Druck auf die Bommeleeër-Ermittler ausgeübt zu haben. Während Biever in einer Pressekonferenz am 13. Juni 2013 Frieden entlastete – „Es gibt kein Element, um Minister Frieden irgendeine Schuld zu geben, dass die Affäre nicht ganz aufgeklärt werden konnte“ –, stellte die Opposition im Parlament am selben Tag jeweils einen Misstrauensantrag gegen die Regierung und Frieden. Beide Anträge wurden mithilfe der LSAP, dem damaligen Koalitionspartner der CSV, abgeschmettert.
Robert Schneider schrieb dazu im Tageblatt: „Frieden konnte den Kopf aus der Schlinge ziehen; dies war allerdings nur mit der Komplizität der LSAP zu erreichen (…) Der gestrige Tag war insgesamt nicht dazu angetan, die grassierende Politikverdrossenheit zu bekämpfen, ganz abgesehen von jeder Menge Kollateralschäden.“ Fabien Grasser meinte im Quotidien über die Sozialisten: „En sauvant la peau de Frieden, ils ont fait preuve d’un manque de courage politique qui les a définitivement décrédibilisés.“ Und Claude Karger schrieb im Journal: „Das Vertrauen in Politik und Institutionen liegt am Boden.“
Die Affäre Wickringen/Liwingen
Bereits ein Jahr zuvor war die Regierung im Zuge der Affäre Wickringen/Liwingen um das neue Fußballnationalstadion verstärkt ins Kreuzfeuer der Opposition geraten. Damals warfen ihr DP und „déi gréng“ Erpressung und Amtsmissbrauch vor und sahen neben Juncker und Innenminister Jean-Marie Halsdorf (CSV) auch die beiden LSAP-Minister Jeannot Krecké und Lucien Lux darin verwickelt. Juncker wies in einer denkwürdigen Parlamentsdebatte am 13. Juni 2012, also ein Jahr vor dem ersten politischen Showdown um die SREL-Affäre, alle Vorwürfe an die Regierung zurück, der die Fraktionen von CSV und LSAP schließlich das Vertrauen aussprachen. Als es um die Verteidigung von Minister Frieden ging, waren die Reihen innerhalb der Sozialisten weniger geschlossen: Die damaligen sozialistischen Nachwuchspolitiker Taina Bofferding, Régis Moes und Franz Fayot hatten in einem Brief an die Partei betont, dass Frieden in der Regierung unhaltbar geworden sei. Mehr und mehr war von Neuwahlen die Rede.
Mit dieser Situation ist Juncker schließlich am 10. Juli 2013 konfrontiert. In seiner Rede gesteht er sich Fehler ein: dass er keine disziplinarischen Maßnahmen gegen SREL-Chef Mille ergriffen hat; dass er im Zuge der Reform des Geheimdienstes nicht dessen interne Kontrolle festgeschrieben hat; und dass er nach Irregularitäten den Instruktionen keinen „suivi“ hat folgen lassen. Juncker trage die Verantwortung, sagt LSAP-Präsident Alex Bodry und bringt im Namen seiner Partei eine Motion für Neuwahlen ein. „Wir entziehen dem Premier das Vertrauen, er muss persönliche Konsequenzen ziehen“, so Félix Braz von „déi gréng“.
Ende einer Partnerschaft
Bevor es überhaupt zur Abstimmung kommen kann, tritt Juncker noch mal ans Rednerpult und sagt, er habe leider feststellen müssen, dass eine Mehrheit seine Erklärungen nicht annehme. Er zeigt sich besonders enttäuscht vom Koalitionspartner LSAP: „Ich hätte mir nie vorstellen können, dass mir ausgerechnet die sozialistische Partei nach 25 Jahren guter Zusammenarbeit ein Bein stellt“, wird er von der Revue zitiert. Daher beantrage er Neuwahlen. Juncker habe sich zum Opfer stilisiert und sei in die Rolle des Märtyrers geschlüpft, kommentierten politische Gegner und Beobachter. Die Koalition aus CSV und Sozialisten hat knapp zwei Legislaturperioden oder neun Jahre überdauert. Nach einem siebenstündigen Parlamentsmarathon tritt der Regierungsrat zusammen. Am Nachmittag geht Juncker zum Großherzog in den Palais, um mit ihm über die Neuwahlen zu sprechen.
Die vorgezogenen Wahlen sollen am 20. Oktober 2013 stattfinden. Die Regierung arbeitet bis dahin noch weiter. Derweil hat der Wahlkampf schnell begonnen. Die Grünen, im Lauf der letzten Monate weit von einer Koalition mit der CSV entfernt, schließen ein schwarz-grünes Bündnis nicht aus. Die DP hält sich anfangs bedeckt. Und die Christsozialen? Als Juncker beim außerordentlichen Nationalkongress im vollen „Centre civique“ in Hesperingen eintrifft, wird er von einer frenetisch applaudierenden Menge empfangen. Der 58-Jährige verkündet seine erneute Kandidatur. „Ich möchte weiterregieren“, sagt er. Die Stimmung ist am Siedepunkt. Die Ekstase mündet im Absingen der Nationalhymne. Tags darauf stellt die LSAP bereits ihren Spitzenkandidaten vor: Ins Rennen geht Wirtschaftsminister Etienne Schneider. Der zu diesem Zeitpunkt 42-Jährige fordert: „Das Land braucht einen Wechsel. Die Fenster müssen aufgerissen und das Land gelüftet werden.“
In einem Gespräch der beiden Fraktionschefs Marc Spautz (CSV) und Lucien Lux (LSAP) mit der Revue stellt Ersterer fest: „Es ist nicht allein an der SREL-Geschichte gescheitert. Das Ganze geht noch weiter zurück. So wurde seitens der Opposition angefangen, uns die Affäre Wickringen-Liwingen anzudichten.“ Sein LSAP-Pendant Lux gibt zu, „dass das Land während der vergangenen zwölf Monate unregierbar war. Es waren wirklich zwölf verlorene Monate.“ Derweil meint der DP-Fraktionschef Claude Meisch: „Kommt, wir ziehen einen Schlussstrich unter all die Affären und unter den politischen Stillstand und wagen einen Neuanfang. Wir brauchen eine neue Regierung.“ Doch zumindest unterschwellig spielt die SREL-Affäre eine Rolle. Jean-Claude Juncker stellt im Interview kurz vor dem Urnengang fest, „dass verstärkt und vehement versucht wird, die stärkste Partei, die nach wie vor die CSV ist, von den Regierungsgeschäften wegzubekommen“.
Showdown an der Wahlurne
Zwar bleiben die Christsozialen nach der Wahl am 20. Oktober 2013 stärkste Partei und erhalten mit 23 Sitzen (drei weniger als 2009) die deutlich meisten am Krautmarkt. Doch der große Sieger sind die Liberalen. Sie gewinnen vier Mandate hinzu und ziehen mit den Sozialisten gleich (13 Mandate), während die Grünen einen einbüßen (6). Für den Autor dieser Zeilen unvergesslich ist der Wahlabend der CSV im Dommeldinger Parc Hotel Alvisse, das Jean-Claude Juncker zusammen mit Parteichef Michel Wolter und der langjährigen Familienministerin Marie-Josée Jacobs durch das Untergeschoss betritt, wo sich das Nationalkomitee der Partei versammelt. Später treten sie vor das Parteivolk. Juncker: „Wir haben die Attacke abweisen können.“ Dabei haben die Liberalen, Sozialisten und Grünen bereits die Chance ergriffen, eine Regierung ohne CSV zu bilden.
Eine einmalige „historische Chance“, wie die Revue nach den Wahlen schreibt. Zuvor haben die Christsozialen bereits das Gespenst eines „Wischiwaschi-Tuttifrutti-Bündnisses“ an die Wand gemalt. Doch sobald klar ist, dass DP, LSAP und „déi gréng“ 32 Sitze haben, treffen sich deren Spitzenleute noch in der Nacht nach der Wahl in der Limpertsberger Dachgeschosswohnung von Lucien Lux, wie der damalige Wort-Journalist Christoph Bumb in seinem Buch „Blau-Rot-Grün – Hinter den Kulissen eines Machtwechsels“ beschreibt. Dort baldowern Xavier Bettel, Claude Meisch, Etienne Schneider, Alex Bodry, Lucien Lux, François Bausch und Félix Braz zusammen mit den damaligen Parteichefs Christian Kmiotek und Sam Tanson die Dreierkoalition aus. Die Entscheidung über den Premier-Posten sollen Bettel und Schneider bei einer Zigarette auf dem Balkon unter vier Augen getroffen haben. „In der SREL-Affäre wurde das Bündnis geboren, im Wahlkampf wurde sie abgemacht und am Wohnzimmertisch von Lucien Lux wurde sie besiegelt“, heißt es in dem Buch. Tageblatt-Leitartikler Alvin Sold begrüßt die sich anbahnende Koalition als „Neu, anders und besser“ und schreibt von einer legitimen Mehrheit.
Am Freitag, 25. Oktober 2013, ernennt der Großherzog Bettel im Palais zum „Formateur“. Bausch sucht den Noch-Bürgermeister der Hauptstadt im Rathaus auf und trägt dabei blaue Schuhe. Unterdessen verabschiedet sich Juncker in Brüssel vom Kreis der EU-Staats- und Regierungschefs. Eine Ära, die 18 Jahre gedauert hat, geht zu Ende. „Weh tut das schon“, sagt er laut Agenturmeldungen. Seine CSV ist „not amused“. Parteipräsident Michel Wolter kann seine Enttäuschung nicht verbergen. Für ihn sind die Dreiergespräche ein abgekartetes Spiel gewesen, „unehrlich“ gegenüber dem Wähler und ein „Kuhhandel zwischen ein paar Leuten“. Die Christsozialen verziehen sich für ein paar Monate in die Schmollecke. Die neue Regierung wird am 4. Dezember 2013 vereidigt.
„Historische Chance“
Auch wenn Bettel & Co. einen schwierigen Start und im Jahr nach ihrem Start ein desaströses Umfragetief erleben – eine vom Tageblatt in Auftrag gegebene TNS-Ilres-Umfrage ergibt, dass nur 31,1 Prozent der Befragten mit der Regierungsarbeit zufrieden sind und 64,4 Prozent unzufrieden – und ihr als „Zukunftpaket“ verkaufter Sparhaushalt geschadet hat, zeigt sie Nehmerqualitäten. Eine heftige Niederlage bedeutet auch das dreifache Nein beim Referendum 2015. Derweil scheint sich die CSV in der „Oppositionskur“ erholt und in der Post-Juncker-Ära Kräfte gesammelt zu haben. Sie zieht mit Spitzenkandidat Claude Wiseler in die Wahlen 2018. Einige Monate zuvor haben die meisten Beobachter noch geglaubt, die Dreierkoalition sei nur ein fünfjähriges Intermezzo gewesen.
Die CSV verliert zwar weitere zwei Sitze am Krautmarkt und landet bei 21, doch bleibt weiter stärkste Partei. Während die DP (minus 1) und die LSAP (minus 3) Sitze einbüßen, gewinnen die Grünen drei hinzu und retten die Koalition. „Durch ‚Gambia‘ hat sich Luxemburg in den letzten Jahren verändert“, konstatiert Lucien Montebrusco im Tageblatt und verweist auf „die lange Liste von Reformen und Gesetzesänderungen“. Die zweite Auflage der Bettel-Regierung hat sich bewährt und das Land durch diverse Krisen gesteuert. Hier und heute, zehn Jahre nach Junckers Showdown im Parlament und der damit verbundenen Zäsur, hat sich Luxemburgs politische Landschaft verändert. Eine Dreierkoalition ist längst Normalität geworden, eine Regierung ohne CSV auch.
Diese Woche zeigt der von RTL und Luxemburger Wort in Auftrag gegebene Politmonitor, dass 68 Prozent der Befragten die Arbeit der Regierung als gut und nur 29 Prozent als schlecht bewerten. Und Xavier Bettel soll demnach Premierminister bleiben. Was mit einer Götterdämmerung begann, sich als monatelang geschmiedeter Machtplan deutete, bei einem nächtlichen Treffen in einer Dachgeschosswohnung unter Dach und Fach gebracht wurde, 2018 eine beachtliche Bestätigung fand, steuert nun auf weitere fünf Jahre zu und kann demnach gut und gerne als echte Ära bezeichnet werden.
Ah ja, es sind Wahlen, Zeit die alte SREL-Affäre aufzuwärmen.... War es nicht eigentlich ein Bettel Xavier, der aus dieser Affäre Kapital geschlagen hatte und eine lückenlose Aufklärung forderte? Wohl zusammen mit seinen gekauften Diplomen vergessen...
Ganz gleich wie groß die politische Taten derjenigen waren, die zum Zeitpunkt der Bombenleger-Affäre das Sagen hatten, sie haben allesamt versagt. Sie werden in die Geschichtsbücher eingehen als diejenigen die ein ganzes Volk bewusst verdummt haben und ihnen wird auf ewig ein mistiger Geruch anhaften bleiben. Sie namentlich aufzuzählen ist mir nicht möglich. Ich möchte niemanden beleidigen, dadurch dass ich ihn nicht erwähnen kann, weil mir sein Wissen dazu nicht bekannt ist.
Die "lange Vorgeschichte" ist womöglich noch länger als in diesem Artikel angegeben. Der luxemburgische Historiker Emile KRIER weist in seinem Buch "Deutsche Kultur- und Volkstumspolitik von 1933-1940 in Luxemburg" auf die wanderfreudigen lützelburger Gesinnungsgenossen hin.
MfG
Robert Hottua