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IrlandDebatte über die Neutralität: Präsident Higgins fährt Dubliner Regierung in die Parade

Irland / Debatte über die Neutralität: Präsident Higgins fährt Dubliner Regierung in die Parade
Der irische Außenminister Micheál Martin meint, dass angesichts einer veränderten Weltlage, Irland „nicht zimperlich“ sein dürfe Foto: European Union

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Muss Irland seine neutrale Verteidigungspolitik ändern? Unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die konservativ-national-grüne Koalition in Dublin eine Debatte über die heikle Frage angestoßen – und sich dafür heftigen Widerspruch nicht nur von der linken Opposition, sondern auch von Präsident Michael Higgins eingehandelt.

Mit der „gefährlichen Tendenz hin zur NATO“ spiele die Regierung mit dem Feuer, teilte der 82-Jährige mit, kritisierte zudem die öffentlichen Anhörungen unter Leitung einer hochdekorierten Irin. Außenminister Micheál Martin musste seine Initiative verteidigen: In einer veränderten Weltlage dürfe Irland „nicht zimperlich“ sein. Bei der Vorstellung seines Vorhabens im Parlament Dáil hatte Martin, früherer Regierungschef und Leiter der nationalkonservativen Fianna Fáil-Partei, im Mai eine „offene und ehrliche Diskussion“ angemahnt. Ausdrücklich schloss der Minister die binäre Alternative zwischen strikter Neutralität und sofortigem NATO-Beitritt aus. Das EU-Mitglied müsse sich unter anderem darüber Gedanken machen, wie es zukünftig mit dem Brüsseler Verteidigungsprogramm Pesco sowie dem nordatlantischen Bündnis zusammenarbeiten wolle. Der NATO ist die Grüne Insel seit 1999 im Programm Partnerschaft für Frieden (PfP) verbunden.

Mag sein, dass Martin mit der Debatte auch die größte Oppositionspartei Sinn Féin (SF) unter Druck setzen wollte. Deren verteidigungspolitischer Sprecher hat erst neulich die Feindseligkeit seiner irisch-republikanischen Partei, dem einstigen Arm der Terrortruppe IRA, gegenüber der NATO vorsichtig revidiert: Bei einer künftigen Regierungsbeteiligung – angesichts dauerhaft guter Umfragewerte von mehr als 30 Prozent eine realistische Annahme – werde SF nicht auf sofortige Auflösung der PfP-Verbindung pochen.

Deutlich weniger differenziert fielen vor Wochenfrist die verfassungsrechtlich heiklen Äußerungen des Präsidenten aus. Zu den vier öffentlichen Anhörungen unter Teilnahme von mehr als 1.000 Bürgern seien vor allem NATO-freundliche Fachleute, darunter „die Admirale, Generäle, die Luftwaffe und so weiter“ eingeladen. Das war sachlich falsch: Zu den Diskussionsteilnehmern gehörten eine Vielzahl von Friedensforschern, zudem Delegierte aus der Schweiz ebenso wie aus dem traditionell neutralen Schweden, das unter dem Eindruck der russischen Bedrohung nun die NATO-Mitgliedschaft anstrebt.

In einer persönlichen Attacke machte sich Higgins zusätzlich über die Anhörungsleiterin Louise Richardson und deren „großen Titel“ lustig. Die Irin Richardson war als Chefin der Universität Oxford maßgeblich an der raschen Entwicklung des Covid-Impfstoffs von AstraZeneca beteiligt, wofür sie im vergangenen Jahr von Queen Elizabeth II. zur Ritterin (offiziell: Kommandeurin des Britischen Empire) geschlagen wurde.

Präsidenten werden in Irland direkt vom Volk gewählt. Die Amtsperiode beträgt sieben Jahre, einfache Wiederwahl ist möglich. Nach zwei starken Frauen, der späteren UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson und der Rechtsprofessorin Mary McAleese, kam 2011 der Labour-Politiker und Ex-Kulturminister Higgins in das Amt, dessen Kompetenzen nicht zuletzt bei der Außenpolitik eng umgrenzt sind. Der Verfasser anerkannter Gedicht-Anthologien und frühere Soziologieprofessor führt sein Amt weitgehend unauffällig.

Scheu vor militärischen Begriffen

Mit seinen wegwerfenden Äußerungen zu den Anhörungen aber traf Higgins einen Nerv. Kein Wunder: Das Problem der Neutralität spielte schon in den Diskussionen zur Gründung des „Freistaats“ 1921 eine erhebliche Rolle. Schritt für Schritt und gegen den zähen Widerstand der britischen Kolonialmacht erkämpfte sich die Grüne Insel unter Führung des langjährigen Präsidenten Eamon de Valera später eine eigene Außenpolitik. Diese gipfelte im Zweiten Weltkrieg in der Weigerung, die strategisch wichtigen Häfen für britische und amerikanische Kriegsschiffe zu öffnen.

In diesem Jahrhundert trug das Thema dazu bei, dass die Volksabstimmungen über die EU-Verträge von Nizza (2001) und Lissabon (2008) zunächst verloren gingen. Das zweite Nizza-Referendum wurde angenommen, nachdem Irland ausdrücklich von der gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik befreit worden war.

Laut dem jüngsten Jahrbuch „Military Balance“ des renommierten Londoner Thinktanks IISS gibt das Land mit 5,1 Millionen Menschen knapp ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts BIP für Verteidigung aus und verfügt derzeit über 8.200 Soldaten. Regierungsplänen zufolge sollen in den nächsten Jahren weitere 2.000 hinzukommen. Verschämt drückt sich die militärische Führung um die Verwendung üblicher Begriffe wie Luftwaffe und Marine. Das „Luftdienstkommando“ (Air Corps) verfügt über maritime Aufklärungs- sowie Transport-Flugzeuge, der „Seedienst“ (Naval Service) über kleine Patrouillenboote. Die Überwachung des irischen Luftraums erfolgt seit Jahrzehnten durch die Royal Air Force des Nachbarn Großbritannien; die Geheimvereinbarung wurde erst in diesem Jahr einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Zündstoff ist reichlich vorhanden

Das Festhalten an der „militärischen Neutralität“ habe also mit einer Sprachverwirrung zu tun, höhnt Fintan O’Toole, Kolumnist der Irish Times: „Alle anderen verstehen unter militärischer Neutralität zweierlei: erhebliche Investitionen in die Landesverteidigung, um etwaigen Drohungen auch ohne Bündnishilfe begegnen zu können; und zweitens die Weigerung, fremde Truppen im eigenen Souveränitätsbereich zuzulassen. Wir hingegen tun das erste nicht, lassen aber das zweite zu.“

Einer jüngsten Umfrage zufolge will eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung von 61 Prozent am bisherigen Modell festhalten. Dazu gehört auch das sogenannte Dreifach-Schloss: Einsätze der kleinen irischen Armee für Friedensmissionen darf es nur nach Beschlüssen von Regierung und Parlament sowie einem entsprechenden UN-Mandat geben. Die Regelung sei obsolet, glaubt Außenminister Martin: Irland dürfe sich nicht von Russland – oder einer der vier anderen Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat – abhängig machen. Das Dreifach-Schloss müsse eventuell abgeändert werden, glaubt auch Forumsleiterin Richardson.

Für Zündstoff ist also weiterhin gesorgt, wenn sich Bürger und Fachleute diese Woche zur vorläufig letzten Anhörung in der Hauptstadt Dublin versammeln.