Mindestens 53 russische Raketen schlugen in der Südostukraine ein, darunter in Dnipro, Kriwi Rih, Saporischschja und Kiew. In der ukrainischen Hauptstadt wurde ein Hochhaus in einem Außenbezirk getroffen. Bis Sonntagabend waren fünf zivile Todesopfer zu beklagen. Heftig beschossen wurde auch die im Norden an der Grenze zu Russland liegende Oblast Sumy.
Die ukrainische Armee macht derweil Fortschritte bei der Gegenoffensive Richtung Donbas sowie Richtung Asowsches Meer und Krim im Süden. Südlich von Orachiw drangen die Kiewer Truppen am Wochenende rund fünf Kilometer in die russischen Verteidigungslinien vor. Auch bei Hulaj-Pole waren kleinere Geländegewinne zu verzeichnen. Im Donbas gelang es der ukrainischen Armee, das seit 2014 von pro-russischen Separatisten besetzte Dorf Krasnohoriwka zu befreien. Laut westlichen Geheimdiensten ist in den nächsten Tagen ein weiterer Vorstoß südlich von Awdijewka Richtung der früheren Separatisten-Hochburg Donezk zu erwarten.
Kiew will sich die durch die Prigoschin-Meuterei zutage getretenen Schwächen der russischen Armee offenbar für die lange geplante und bisher schwierig angelaufene Gegenoffensive zunutze machen. Noch ist indes unklar, wo und wie dies geschehen soll. Prigoschins Wagner-Söldner sind von der Frontlinie abgezogen worden. Bei der zuvor von Wagner-Truppen eroberten und zerstörten Stadt Bachmut macht die ukrainische Armee schon seit einiger Zeit leichte Geländegewinne. Noch ist jedoch unklar, wie viele der bis zu 25.000 Wagner-Söldner allenfalls wieder an die Front zurückkehren könnten, und sei dies als reguläre russische Zeit-Soldaten.
Heute hat die Welt gesehen, dass die Bosse Russlands nichts kontrollieren. Gar nichts. Komplettes Chaos.
Die bisherigen Äußerungen in Kiew zur Prigoschin-Meuterei sind vor allem politischer Natur. „Alles, was in Russland schieflaufen kann, läuft schief, und Prigoschin könnte einen Prozess unvorhersehbarer Konsequenzen angeschoben haben“, sagte der Chef des ukrainischen Sicherheitsrates Olexej Danilow am Sonntagmittag. „Der Countdown beginnt“, frohlockte er mit Blick auf Wladimir Putins Herrschaft. Laut Danilow hätten die jüngsten Ereignisse gezeigt, dass eine Gruppe von Oligarchen und Vertretern der Sicherheitsstrukturen, der so genannten „Silowiki“, das Vertrauen in Putin verloren hätten. Um sich an der Macht zu halten, müsste Putin den Kriegszustand ausrufen und massive Säuberungen beginnen, glaubt Danilow. „Prigoschin hat gezeigt, dass in Russland der Staat das Gewaltmonopol verloren hat, er (der Wagner-Chef) hat Putin erniedrigt“, twitterte am Sonntag der Selenskyj-Berater Michailo Podolak.
Argumente für Kiews NATO-Beitritt
Von einer entblößten Schwäche Putins sprach bereits am Samstagabend auch Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj. „Heute hat die Welt gesehen, dass die Bosse Russlands nichts kontrollieren. Gar nichts. Komplettes Chaos“, twitterte Selenskyj und leitete daraus ab, dass die NATO auf dem Gipfel von Vilnius bestimmt nicht auf Moskau Rücksicht nehmen müsse. Selenskyj wünscht sich dort zumindest eine klare und unumstößliche Beitrittsperspektive für die Ukraine. „Ukrainische Soldaten, ukrainische Gewehre, ukrainische Panzer und ukrainische Raketen beschützen Europa von solchen Märschen, wie wir sie heute (Samstag) auf russischem Territorium gesehen haben“, warb Selenskyj und forderte erneut moderne Waffensysteme und vor allem F-16-Kampfjets für die Ukraine.
Vom Prigoschin-Putsch profitieren möchte auch der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko. Laut übereinstimmenden Angaben aus Moskau und Minsk war er es, der Prigoschin 200 Kilometer vor Moskau zur Umkehr seiner Einheiten und der Absage seines Marsches auf Moskau bewegen konnte. Laut Putin-Sprecher Dmitri Peskow soll der De-facto-Putschist Prigoschin vor russischer Strafverfolgung ausgenommen werden und von Rostow am Don nach Belarus ausreisen. Die amtliche belarussische Nachrichtenagentur „BelTA“ meldete hingegen nur Lukaschenkos Vermittlerdienste, die im Einvernehmen mit Putin geleistet und vom Kreml gelobt worden seien.
Wagner-Söldner in Belarus stationieren?
Dafür, dass Prigoschin wirklich in Belarus eingetroffen ist, gab es am Sonntag keine Beweise. Sein Pressesprecher behauptete am Sonntagmittag, man habe den Kontakt mit ihm verloren. Amerikanische und ukrainische Russland-Kenner schätzten am Sonntag, das Leben des Wagner-Chefs sei in Belarus bestimmt gefährdet, denn Putin verzeihe Verrätern nicht.
Klar ist, dass Lukaschenko zwar noch eine gewisse Herrschaft über sein Staatsgebiet hat, jedoch politisch und wirtschaftlich völlig von Russland abhängig ist. Der bauernschlaue Autokrat dürfte indes versucht sein, Prigoschin für seine Zwecke einzusetzen. Denkbar ist nicht zuletzt eine Stationierung von Wagner-Söldnern entlang der belarussisch-ukrainischen Grenze. Dies würde den Druck auf die Ukraine – und vor allem auf die Hauptstadt Kiew – wesentlich erhöhen, denn Prigoschins Truppen sind weit gefährlicher als die bisher dort stationierten paar Tausend russischen und belarussischen Soldaten.
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