Vor 113 Jahren, in der Morgenfrühe des 14. September 1910, entdeckt ein junger Italiener, der Metzgergeselle Giacomo Fossato, die Leichen der Eheleute Françoise und Henri Kayser-Paulus in deren Wohnung gelegen in Esch-Grenz, Otherstraße. Die Kayser-Paulus sind ein älteres, durchaus angesehenes Ehepaar in der Ortschaft, wo sie eine Gastwirtschaft und einen Kohlenhandel betreiben. In seinem vor einigen Wochen mit dem Servais- Literaturpreis ausgezeichneten Werk beschreibt der Autor Jérôme Quiqueret die Kulisse dieses grausigen Raubmorddramas: die aufstrebende Industriestadt, die stets wechselnde und wachsende Bevölkerung bestehend hauptsächlich aus Ausländern jeglicher Herkunft, vorwiegend aber aus jungen Italienern, welche die Gelsenkirchener Schmelz, heute Belval, aufrichten und in der Hiel oder in den neu entstandenen Burenstraße und Brillstraße unter unmenschlichen Bedingungen nächtigen. Bei seiner Antrittsrede in der Abgeordnetenkammer beschreibt der Sozialist Dr. Michel Welter die Verhältnisse folgendermaßen: „Venez, Messieurs, à Esch et voyez ce qui s’y passe. Vous trouverez des choses abominables, la promiscuité du sexe et de l’âge dans toute sa laideur. Vous avez là des caves de 40 mètres cubes d’air où vivent des dizaines, des vingtaines de personnes. Les lits ne désemplissent pas. Un couple occupe le lit dans la journée et fait place le soir à un autre qui quitte son travail, en sorte que la majeure partie des lits ne refroidissent jamais. Pendant des mois entiers ils sont occupés sans interruption, sans qu’on change la literie, sans qu’on ouvre les fenêtres, sans qu’on lave le plancher, sans qu’on change les couvertures et les draps. Allez voir, Messieurs, et dites-moi après cela, si, dans notre pays il n’y a pas de question sociale.“
Quiqueret verfolgt die Schritte der mühseligen polizeilichen Ermittlungen bis zu der Aufklärung des Falles zehn (!) Jahre später und bedient sich einer weniger prosaischen Sprache als die des Arztes Welter. Sein Stil ist bewusst trocken journalistisch und eben deswegen so spannend.
Was mich an diesem ungewöhnlichen, minutiös geschichtstreuen Buch neben seiner literarischen Qualität beeindruckt, sind die Parallelen, welche sich mit dem heutigen Wahlkampf auftun.
Die Kriminalgeschichte liefert nämlich den Vorwand für die ausführliche Beschreibung der damaligen ideologischen Grabenkämpfe zwischen der Rechtspartei, Vorläufer der heutigen CSV, teils vertreten durch das Wort, manchmal der Liberalen, einerseits und andererseits der Linken, welche knapp ein Jahr vor dem Verbrechen die Verantwortung im Stadtrat übernahm.
Suche nach den Schuldigen
Kurz vor den diesjährigen Gemeindewahlen versucht die hauptstädtische liberale Partei, die Bettler als Sündenböcke zu bekämpfen, um das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu stärken. Das mit den Sündenböcken war damals in Esch nicht anders. 1910 verloren die Untersuchungen der Polizei kostbare Zeit, da angenommen wurde, dass die Verbrecher im Milieu der Arbeiterschaft zu suchen seien, vornehmlich bei der italienischen. „Il faut visiter tous les grands lieux de travail, les logements des ouvriers et procéder aux visites corporelles et domiciliaires qui s’imposent“ (S. 70). Und der Untersuchungsrichter Auguste Liesch, heute bekannt als Autor unserer geliebten Maus Ketti, durchkämmt die Buren- und die Brillstraße „principalement habités par des Italiens“ (S. 71). Bereits im Mai des Jahres 1897 gab es in Esch Angriffe und eine echte Jagd auf italienische Arbeiter (S. 282). Und der Industrielle Léon Metz möchte das Strafgesetzbuch verschärfen: „Si nous n’avions affaire qu‘à nos ouvriers luxembourgeois, la loi suffirait amplement. Mais l’élément étranger domine dans notre classe ouvrière. Les menaces, presque toujours des étrangers, se dérobent à l’action répressive, en passant la frontière.“
Ich möchte hier keineswegs unterstellen, dass man in Luxemburg-Stadt Hass auf ausländische und ansässige Bettler schüren möchte. Es ist in meinen Augen allerdings unverantwortlich, aus wahltaktischen Gründen Menschen auszugrenzen und für das subjektive Unsicherheitsgefühl verantwortlich machen zu wollen.
Im Falle des Mordes an den Eheleuten Kayser-Paulus beschritt die Untersuchung jedenfalls einen Irrweg. Nicht ausländische Arbeiter waren die Mörder, sondern ironischerweise ein luxemburgischer Polizist, welcher mit der Untersuchung beauftragt war.
„Que fait la police?“
Im Jahr 1910 hatte Esch bereits weit über 15.000 Einwohner und weniger Polizisten als Finger an einer Hand. So ist es nicht verwunderlich, dass die Beamten der „Maréchaussée“ bei den polizeilichen Untersuchungen zur Aufklärung der Tat hoffnungslos überfordert waren. Die Beschreibung Quiquerets des haarsträubenden „Gewurschtels“ der Polizeibeamten gehören zu den unterhaltsamsten Passagen seines Romans.
Bevor die Polizei vor Ort erschien, trampelte die gesamte Nachbarschaft taumelnd durch die Wohnung der Ermordeten. Der Leiter des Mess- und Erkennungsdienstes lichtete Fingerabdrücke ab, vergaß allerdings, die der Verstorbenen und der Schaulustigen abzunehmen … Dazu kommt, dass die Polizeikräfte unheilbar untereinander zerstritten waren und ein Kompetenzgerangel zwischen Schöffenrat und Regierung losgetreten wurde.
Es wäre ratsam für die CSV, die Lehren aus dem Fall Kayser-Paulus zu ziehen. Es ist unverständlich, dass sie stattdessen in ihrem Escher Wahlprogramm wieder eine Gemeindepolizei einführen wollen, ohne die Frage über mögliche Konflikte zwischen Gemeinde und Staatspolizei zu stellen. Vor knapp 25 Jahren wurde die kommunale Polizei mit der staatlichen „Gendarmerie grand-ducale“ in der neu geschaffenen „Police grand-ducale“ zusammengeführt. Soll das Rad der Geschichte in die Zeit der Versäumnisse Anfang des vorigen Jahrhunderts zurückgedreht werden?
Wie anfangs beschrieben, lagen die Ursachen der grassierenden Kriminalität bei der misslichen sozialen Lage einer Mehrheit der Bevölkerung. Es ist auch Aufgabe der Gemeinden, sozialen Ungleichheiten entgegenzuwirken. Wie es Victor Hugo in „Les misérables“ formulierte: „Ouvrez des écoles, vous fermerez les prisons.“ Und die Arbeiten an den dringend erforderlichen Bauvorhaben in der „Maison relais Sprëtzenhaus“ sowie der Renovierung der Brouch-Schule werden für wenigstens sechs Monate ruhen, da der Schöffenrat es versäumt hat, die Kostenvoranschläge dem Gemeinderat zu unterbreiten.
Esch-la-Mauvaise
Meine geliebte Stadt Esch genießt in Sachen Sicherheit nicht den besten Ruf. Ob Esch „ruppEscher“ ist als andere Städte, ist allerdings fraglich. Hierzu gibt es keine verlässlichen Statistiken. Ich habe dieses Eschbashing, das Denigrieren der Minettehauptstadt, satt. Die ADR sieht die Lage so schief, dass sich die Bürger mit Waffen zur Wehr setzen sollen. Der Escher Schöffenrat beschwört regelmäßig kurz vor den Wahlen die Unsicherheit und das Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung herauf und legte vor einigen Wochen einen Sicherheitsplan vor, welcher neben einer Gemeindepolizei auch Kameras auf Straßenecken vorsieht. Dabei hat die aktuelle Ratsmehrheit das Thema in den letzten vier Jahren vernachlässigt. Es ist kein Zufall, dass diese von Experten umstrittene Maßnahme nicht so schnell umgesetzt werden kann. Hätte man diese Kameras tatsächlich aufstellen wollen, so hätte man nicht erst im Budget 2023 Kredite vorgesehen, um eine Studie zum Thema zu beantragen. Es ist übrigens nicht bekannt, ob die Studie bereits in Auftrag gegeben wurde.
Für mich ist das Thema Sicherheit ein außerordentlich ernstes. Sicherheit ist ein elementares Bedürfnis der Menschen und eben deshalb ein essentielles, verbieftes Menschenrecht. Sicherheit ist eine Hauptaufgabe des Rechtsstaates. Sicherheit darf weder privatisiert werden, etwa durch Einstellung von Sicherheitsfirmen im öffentlichen Raum, noch darf sie in niedriges Wahlkalkül einfließen. Weder im Jahr 1910 noch im Jahr 2023!
Die Escher LSAP steht für eine Sicherheitspolitik der Vernunft. Mit den lokalen Interessensvereinen werden wir Gefahrenstellen durch adäquate Beleuchtung entschärfen, Polizeipräsenz wird an den bekannten Umschlagplätzen verstärkt. Dies geschieht in regelmäßiger Absprache mit dem Polizeikommissariat. Streetworkers werden in größerer Zahl eingesetzt, um dem sozialen Aspekt der Kriminalität zu begegnen. Außerdem werden die „Agents municipaux“ gezielt ausgebildet, um gegen den respektlosen Umgang mit öffentlichen Einrichtungen vorzugehen.
Dieser Artikel hat mir den letzten Rest betreffend rote Politik gegeben. Eine kommunale Polizei ist von Nöten um Einhaltung der Gemeindereglemente zu garantieren. Wenn Esch/Alzette keine Sicherheitspolizei braucht, na ja. Aber die Stadt Luxemburg braucht sie. Bravo an den Schöffenrat der Stadt Luxemburg.