Den Schreckenstag, an dem der Krieg sie vor 30 Jahren in ihrem eigenen Haus ereilte, wird Adina nie vergessen. „Ich war kein behütetes Mädchen, keine schwache Frau. Ich hatte einen Job, zwei Kinder, stand mit beiden Beinen fest im Leben“, erzählt die heute 60-Jährige im Sitzungssaal von „Medica Zenica“, einem auf die Behandlung von kriegstraumatisierten Frauen spezialisierten Zentrum im bosnischen Zenica: „Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Und wie dies das eigene Selbstbewusstsein zerstören kann.“
Ein „normales und glückliches Leben“ habe ihre Familie vor dem Krieg in ihrem Heimatstädtchen Vares geführt, erzählt die damals beim jugoslawischen Energieriesen „Energoinvest“ beschäftigte Frau. Wie viele Jugoslawen verfolgte Adina damals ungläubig und entsetzt, wie sich der Vielvölkerstaat Anfang der 90er Jahre in blutigen Kriegen zu zerlegen begann: „Ich war bis zuletzt überzeugt, dass die Vernunft sich durchsetzt – und es keinen Krieg geben wird.“
Doch nach den 1991 in Slowenien und Kroatien ausgebrochenen Kriegen wurde 1992 schließlich auch Bosnien und Herzegowina zum Schauplatz unerbittlicher Kämpfe. „Wir erlebten einen großen Schock“, erinnert sich Adina seufzend. Den bald kursierenden Berichten über Kriegsverbrechen vermochte sie anfangs keinen Glauben zu schenken: „Ich dachte, dass da eine Artillerie von einem Berg auf die andere schießt, dass eine Armee gegen die andere kämpft.“
Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können. Und wie dies das eigene Selbstbewusstsein zerstören kann.
Hatten zu Beginn des Bosnienkriegs (1992-1995) die Armee der muslimischen Bosniaken und die Truppen der kroatischen HVO noch gemeinsam gegen die serbische VRS gekämpft, sollten sie im Frühjahr 1993 zu erbitterten Feinden werden. Im zentralbosnischen Lasva-Tal wurde die muslimische Zivilbevölkerung bereits im April und Juni 1993 zu Opfern von Massenmorden, Vertreibungen, Vergewaltigungen und Internierungen durch die HVO.
Bedroht, ausgeraubt und vergewaltigt
Am 23. Oktober 1993 wies der damalige HVO-Oberbefehlshaber Slobodan Praljak seine Truppen an, die Lage in Vares zu „klären“ und dabei „keinerlei Gnade“ walten zu lassen. In dem drei Kilometer von Vares entfernten Weiler Stupni Do wurden die Männer von HVO-Soldaten vor den Augen ihrer Familien erschossen, Frauen und Mädchen vergewaltigt, Dorfbewohner in ihre in Brand gesteckten Häuser eingeschlossen und bei lebendigem Leib verbrannt: Mindestens 37 muslimische Bosniaken verloren bei dem Massaker ihr Leben.
In Vares selbst zogen Angehörige der HVO und der Militärpolizei zur selben Zeit von Haus zu Haus. Mehr als 250 muslimische Männer wurden interniert. Frauen wurden bedroht, ausgeraubt und vergewaltigt. „Man findet sich mit dem Tod ab. Man spürt keine Emotionen mehr, keine Angst mehr. Alles zerspringt. Es gibt nichts mehr Schönes mehr. Man denkt nur noch, es ist vorbei“, umschreibt Adina ihre Gefühlslage an dem Tag, der ihr durch den Krieg ohnehin entregeltes Leben völlig aus der Bahn werfen sollte: „Ich begriff, dass ich alle Kämpfe verloren hatte. Und dass es für mich kein Weiter gibt.“
Kriege werden fast immer von Männern angezettelt – und geführt. Doch oft sind es vor allem Frauen, die militärische Konflikte am härtesten treffen. Ob Bosniakinnen, Kroatinnen oder Serbinnen: Auch fast drei Jahrzehnte nach Ende des Bosnienkriegs machten den überlebenden Frauen die Folgen der Vergewaltigungen noch stets zu schaffen, berichtet die Psychotherapeutin und Direktorin von „Medica Zenica“, Sabiha Husic.
Eine nationale Statistik zu der Zahl der während des Bosnienkriegs vergewaltigten Frauen gebe es nicht, von internationalen Hilfsorganisationen werde diese auf 20.000 bis 50.000 geschätzt, berichtet Husic: „Doch es sind sicherlich mehr. Wie zählt man die Frauen, die mehrmals vergewaltigt wurden? Wie erfasst man Frauen, die nach ihrer Vergewaltigung ermordet wurden?“
Vergewaltigte Frauen weiterhin stigmatisiert
In einem oft traditionell geprägten Umfeld halte die Angst, selbst für ihre Vergewaltigung verantwortlich gemacht zu werden, viele Frauen noch immer davon ab, selbst in ihren Familien über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen, so Husic: „Es gibt immer noch tausende von Frauen, die nie über ihre Vergewaltigung gesprochen haben und auch nie darüber sprechen werden.“
Es gibt immer noch tausende von Frauen, die nie über ihre Vergewaltigung gesprochen haben und auch nie darüber sprechen werden
Sie habe „viele Jahre über ihre Vergewaltigung geschwiegen“, von der lange nur der „allerengste Familienkreis“ gewusst habe, erzählt Adina. In einer Kleinstadt wie Vares, „in der sich alle kennen“, gebe es bis heute ein „Stigma“ gegenüber vergewaltigten Frauen: „Es bedarf viel, viel Kraft, dass eine Frau das alles aushalten kann. Allein kann sie das nicht. Denn es ist sehr schwer, sich von einer derartigen Zerrüttung des eigenen Lebens zu erholen.“
Ihr Mann habe von ihrer Vergewaltigung gewusst, doch habe er „sich nie damit abfinden“ können: „Er warf mir vor, dass ich das hätte vermeiden können.“ Ohne Adina zu informieren, reichte ihr Mann die Scheidung ein. Allein zog Adina ihre Söhne groß, ohne mit Vertrauten über ihre Ängste und Traumata sprechen zu können: „Ich ging zwar zum Psychiater, sprach über meine Alpträume, Schlaflosigkeit und Depressionen. Aber wenn man die Ursache nicht benennt, gibt es auch keine Heilung.“
Alltagshilfe und medizinische Betreuung
Den „Schmerz, der mich zerriss“ und die immer wiederkehrenden Schreckensbilder umschreibt Adina im Rückblick als „Gift, das dich langsam zersetzt“: „Und wenn man dieses Gift für sich behält, frisst es dich auf, zerstört deine Psyche und den ganzen Organismus.“ Erst als sie „kurz vor dem totalen Zusammenbruch“ gestanden sei, habe sie 2014 die Kraft aufgebracht, sich bei „Medica Zenica“ zu melden: „Ich hatte genug von dem Leben im Geheimen. Und ich wollte endlich die Last abwerfen, die mich quälte.“
Schon während des Krieges engagierte sich Sabiha Husic zunächst als freiwillige Helferin, später als Therapeutin in dem 1993 von der deutschen Gynäkologin Monika Hauser gegründeten Zentrum in Zenica: „Im Krieg gingen wir in die Flüchtlingslager, um die Frauen über die Hilfsmöglichkeiten zu informieren. Heute wenden sich oft Frauen an uns, die wieder in ihre Heimatorte zurückgekehrt sind, in denen sie damals vergewaltigt wurden. Einerseits reißen dort alte Wunden leichter wieder auf. Andererseits haben sie dort kaum die Möglichkeit, mit anderen über das Erlebte zu sprechen.“
Neben der medizinischen Betreuung und praktischen Alltagshilfen stehe die therapeutische Aufarbeitung der traumatischen Erfahrungen im Mittelpunkt der Arbeit des Zentrums, berichtet Husic: „Die Bilder der Vergangenheit lassen sich nicht verdrängen und vergessen. Aber wir helfen den Frauen, ihnen eine neue Bedeutung zu geben, sodass sie damit leben können – soweit das möglich ist.“
Bereits ihre erste Begegnung mit anderen Schicksalsgenossinnen, mit denen sie sich über ihre Traumata austauschen konnte, empfand sie als enorme Erleichterung. „Schritt für Schritt“ habe sie seitdem ihr verlorenes Selbstvertrauen wieder „erkämpft“, auch wenn es manchmal immer noch „dunkle Tage“ gebe: „Das Wichtigste ist, endlich darüber sprechen zu können.“
Rund 20.000 Frauen wurden betreut
Sie kämpfe für ihre Genesung, aber könne das ihr angetane Verbrechen „weder vergessen noch vergeben“, sagt Adina. Keine Schwierigkeiten hat sie jedoch damit, dass ihr ältester Sohn sich in eine Kroatin verliebt und sie geheiratet hat: „Warum sollte ich dieses wunderbare Mädchen wegen der Untaten der HVO verurteilen? Ich empfing sie mit offenen Armen in meinem Haus.“
Rund 20.000 traumatisierte Frauen hat Medica Zenica laut Husic in den letzten 30 Jahren betreut – aus allen Regionen des Landes: „Leider fehlt es bei den zuständigen Institutionen an der Entschlossenheit, diesen Frauen zu helfen. Und es wird bis heute noch immer geschaut, welchen Nachnamen sie haben und welcher ethnischen Gruppe sie angehören.“
Sie wolle die Zeit, die ihr noch bleibe, nun dazu nutzen, „besser und schöner zu leben“, sagt Adina beim Abschied. Sie habe zwar noch nicht allen ihren Bekannten von ihrem Schicksal erzählt. Sie habe aber auch „keine Angst“ mehr, dass andere von ihrer Vergewaltigung erfahren könnten: „Ich brauche kein Bedauern, aber erst recht keine schiefen Blicke. Denn ich bin nicht schuldig und habe es auch nicht verdient, was mir angetan wurde. Das Stigma gegenüber uns besteht noch immer. Aber ich habe gelernt, dagegen zu kämpfen.“
Weltweite Hilfe
Die weltweite Unterstützung für kriegstraumatisierte Frauen und Mädchen hat sich das Frauennetzwerk „medica mondiale“ in Köln zum Ziel gemacht: Nicht nur in Bosnien und Herzegowina, sondern auch in Kosovo, Afghanistan, Kongo, Liberia und Irak unterhält die Hilfsorganisation gemeinsam mit lokalen Partnern Frauenzentren für Überlebende von Kriegsvergewaltigungen. Die erschütternden Berichte über Massenvergewaltigungen hatten die deutsche Gynäkologin und Feministin Monika Hauser im Winter 1992 veranlasst, mitten im Krieg nach Bosnien zu reisen, um sich für die vergewaltigen Frauen zu engagieren: Denn von Hilfe für die Betroffenen war nirgendwo die Rede. Gemeinsam mit einheimischen Psychologinnen und Ärztinnen eröffnete Hauser auf dem Gelände eines früheren Kindergartens im zentralbosnischen Zenica im April 1993 „Medica Zenica“ – das erste auf die Behandlung von kriegstraumatisierten Frauen spezialisierte Zentrum mit einer gynäkologischen Praxis, einem Operationssaal und Beratungsräumen. Zur Unterstützung und dem Sammeln von Spenden für das bosnische Frauenzentrum wurde 1994 in Köln ein Büro eröffnet – die Geburtsstunde von „medica mondiale“. Feministische Solidarität, der Kampf gegen die Gewalt an Frauen und die Hilfe, deren traumatische Folgen zu verarbeiten, ist bis heute die Mission von „medica mondiale“. „Wir haben tausende von Frauen motiviert, über sich selbst und ihre Stärken nachzudenken. Wir machten ihnen bewusst, dass sie ihre Rechte einfordern können“, so Sabiha Husic, Direktorin von „Medica Zenica“. (tro)
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